In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
ihre Weise zu referieren.
Ljudmila hatte sich ausgezogen. Nackt und frierend stand sie in dem eiskalten Schlafzimmer, weiß wie eine Marmorstatue, üppig wie eine alt gewordene Aphrodite. Hier war sie nie gewesen. Sie sah sich die Möbel an und versuchte, sich das Zusammenleben von Vanja und Oksana vorzustellen. Das Zimmer war klein, das Doppelbett hatten sie an die Wand geschoben. Vanja hatte eindeutig außen gelegen. Auf der Kommode direkt gegenüber vom Bett lagen ein altes Feuerstein-Feuerzeug, eine Lesebrille und ein Buch, Gogols Die toten Seelen . Ljudmila wusste, dass Vanja es sehr gemocht hatte. Oft hatte er daraus zitiert und über die burlesken Schilderungen der unbeholfenen Dorfschwindeleien gelacht.
Von Oksanas persönlichen Dingen fand sich nichts mehr im Schlafzimmer. Als wäre sie nie hier gewesen. Ljudmila seufzte und zog die unterste Schublade aus der Kommode. Fing an, Vanjas Kleidungsstücke zu sortieren. Das meiste sollte seiner Familie geschickt werden, etwas wollte sie selbst behalten. Einzelne Sachen zog sie sofort an – Wollunterwäsche, eine grobe Baumwollhose, einen großen Pullover.
In der obersten Schublade fand sie etwas, das ihr Gesicht aufleuchten ließ: Vanjas Medaille. Der Orden »Der goldene Stern«, den man ihm zusammen mit dem Ehrentitel »Held der Russischen Föderation« verliehen hatte, lag in einer mit blauem Samt ausgeschlagenen Schachtel. Woraus war er gemacht, der glänzende Stern unter dem einfachen weißen, blauen und roten Band? Ein Metallkern, vielleicht Stahl, überzogen mit reinem Gold? Ljudmila fand, es hätte zu Vanja gepasst, ein Herz aus Stahl und Gold. Sie befestigte den Orden an der linken Seite des Pullovers.
Dann holte sie Vanjas Grubenstiefel und stopfte Wollsocken vor ihre Zehen. Seine große Kolotjoska-Jacke legte sie neben sich aufs Bett. Schließlich steckte sie seine alte Dienstpistole in die Tasche.
Sie setzte sich aufs Bett. Die nächsten Stunden wollte sie mit Erinnerungen an ein langes Leben mit Vanja verbringen.
Die Fenster im Büro des Konsuls waren erleuchtet. Jekaterina ging über den Abhang auf das Büro zu. Sie war erleichtert, dass sie ihr Anliegen im Vorzimmer nicht erklären musste, da Olga sich im Büro des Trusts aufhielt. Am liebsten wollte Jekaterina mit dem Konsul allein reden. Sie war enttäuscht über Georgi Gavrilowitschs Anwesenheit und erinnerte sich an Ljudmilas Worte. »Du musst nur dies erzählen, Katja, nicht mehr. Ich denke, das reicht. Verbreite es bei so vielen Leuten, wie du kannst. Aber rede auf keinen Fall mit Gosja, wenn du nicht musst. Ihm vertraue ich nicht.«
»Und womit können wir Ihnen behilflich sein, Jekaterina Tarasivna?«, erkundigte sich der Konsul in väterlichem Ton. Er hatte sich ein wenig erholt, nachdem er zu Mittag gegessen und ein paar Stunden geschlafen hatte. »Wie geht es Ihnen? Wir haben alle Angst, dafür müssen Sie sich nicht schämen. Setzen Sie sich … nehmen Sie diesen Sessel. Möchten Sie etwas Tee? Vielleicht ein wenig Kaffee?«
»Nein, danke.« Jekaterina senkte höflich den Kopf. »Ich bin gekommen, um Rat zu suchen … unter vier Augen.«
»Selbstverständlich, aber Gosja kann ruhig bleiben. Wir können uns doch auf unseren Dolmetscher verlassen, nicht wahr? Er hört mehr vertrauliche Informationen als Sie und ich zusammen. Seien Sie nur ganz offen, Katja. Worum geht’s denn?« Der Konsul schaute den Dolmetscher nervös an. Wie gewöhnlich wollte er die Verantwortung mit jemandem teilen. Vermutlich kam sie mit nichts Wichtigem, aber ganz sicher konnte man nie sein.
Jekaterina dachte, es wäre das Beste, vorsichtig zu sein. »Wenn ich etwas gehört habe … etwas, das nicht gut ist für jemanden, zum Beispiel, dass jemand nicht der ist … nicht der ist, für den er sich ausgibt. Könnte er aufgehalten werden, ohne dass er erfährt, woher man es weiß?«
»Nicht der ist … ich verstehe Sie nicht.« Der Konsul sah sie bekümmert an.
»Der Trust hat Jewgeni Iwanowitsch Rostov nicht angefordert. Nicht unser Büro. Wer also hat ihn geschickt? Waren Sie es …?«
»Wer, ich … was?« Die Unterlippe des Konsuls begann heftig zu zittern.
»Na, na, Katja.« Der Dolmetscher griff ein und runzelte die Augenbrauen. Doch es gelang ihm nicht, ein strenges Gesicht zu ziehen, die runden Pausbacken und die wenigen Haarsträhnen ließen ihn nur lächerlich aussehen. »Sag mal, hast du getrunken? In diesem Fall … nun ja, es ist verständlich, dass du Angst hast, aber so benimmt man sich
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