In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
Touristen auf den Kreuzfahrtschiffen erzählten.
Die Kaianlage war weit größer, als sie von der Siedlung aus aussah – wahrscheinlich, weil der Abhang sich über die Dächer einiger großer Lagerhäuser aus Beton wölbte. Und wie in der Siedlung stand inmitten der hässlichen, viereckigen Klötze ein zwei Stockwerke hohes grün gestrichenes Holzhaus. Das Hafenbüro des Trusts. Knut hatte es mehrmals besucht. Heute war es geschlossen und dunkel. Nicht ein Mensch war am Kai zu sehen.
Die Kutter waren größer, als sie vom Hubschrauber aus gewirkt hatten. Man hatte sie mit groben Trossen hintereinander vertäut, sie scheuerten an enormen schwarzen Gummireifen, lagen tief in der pechschwarzen See und schaukelten schwer in der langen Dünung. Aber warum am Kai von Barentsburg?
Knut näherte sich vorsichtig, er achtete auf jeden seiner Schritte zwischen den Tonnen, Stahltaubündeln, alten Blechbehältern und anderem Schrott. Die Anlegestelle war vereist und glatt von Seewasser und Schnee. Es roch nach Dieselöl und fauligem Holz. Worauf sollte er achten? Er zog sein Notizbuch heraus und schrieb sich die Kennzeichen und die russischen Namen auf, die er allerdings nicht verstand, weil sie mit kyrillischen Buchstaben auf den Rumpf gemalt waren. Aber er konnte genug Russisch, um das Wort Murmansk unter dem Namen am Heck lesen zu können.
Die Schiffe waren fest vertäut und hatten länger als einen Tag am Kai gelegen. Kein Besatzungsmitglied war zu sehen, weder an Deck noch auf dem Pier. Schwache Lichter wiesen trotzdem auf Leben an Bord hin – erst jetzt fiel ihm das tiefe Brummen der Motoren auf, das Platschen des Kühlwassers, das mittschiffs aus einem Rohr spritzte, das irritierende elektronische Summen. So ungern er es auch tat, er meinte, an Bord klettern zu müssen. Glücklicherweise führte eine kurze Gangway vom Kai auf das Deck eines der Fischkutter.
Es stank nach alten Fischinnereien, als er über die Reling kletterte. Das blaugraue, diffuse Licht einiger Leuchtstoffröhren flimmerte am vorderen Mast. Von dort kam das elektrische Summen. Das Deck war mit einer dünnen, fast unsichtbaren Eisschicht überzogen. Er rutschte auf unsicheren Beinen auf die rechte Seite des Ruderhauses. Der Eingang wurde von einer soliden Eisentür versperrt. Beide Handgriffe wiesen nach oben. Obwohl er sich daranhängte und zog, ließ die Tür sich nicht öffnen. Offensichtlich war sie abgeschlossen. Vorsichtig tastete er sich um das Ruderhaus, um einen anderen Zugang zu finden. Er hielt sich an der Reling fest, rutschte aber mehrfach aus und wäre beinahe gefallen, wenn er nicht im letzten Moment etwas gefunden hätte, woran er sich festhalten konnte.
Hinter dem Ruderhaus stand er nun auf der anderen Seite des Decks, im Schatten des schwachen Lichts von den Lampen am Mast. Die Landschaft auf der anderen Seite des Fjords sah aus, als würde sie über dem ölschwarzen Wasser schweben. Die Berge, die weißen Gletscher, die Uferlinie. Er atmete tief ein: Selbst jetzt, nach all den Jahren auf Spitzbergen, konnte ihn dieses Polarland mit einer Sehnsucht nach etwas erfüllen, von dem er wusste, dass er es längst besaß. Es war eine Art von Zärtlichkeit, die nur das Eis und die Kälte in ihm weckten.
Plötzlich entdeckte er die Leiter, die über der Reling hing.
Vorsichtig ging er zu den kräftigen Haken, mit der die Treppe an der Reling befestigt war, und schaute hinunter. Der Abstand zwischen der untersten Stufe und der Wasseroberfläche betrug weniger als einen Meter, die passende Höhe, um von einem Beiboot den Fischkutter zu entern. Es sah aus, als hätte die Leiter schon eine ganze Weile dort gehangen, die Farbe am Schiffsrumpf war an mehreren Stellen abgeblättert.
Warum hing sie hier? Ihm fiel kein Grund ein, warum jemand auf diese Weise an Bord gehen sollte. Besucher aus Barentsburg würden die Gangway benutzen. Und auf dem Fjord waren keine weiteren Schiffe zu sehen. Die Einwohner von Barentsburg fuhren in der Kälte und Dunkelheit dieser Jahreszeit nicht mehr hinaus. Die kleineren Boote lagen längst an Land.
Knut hörte nichts, er wusste auch nicht, ob sich außer ihm tatsächlich noch jemand an Bord des Fischkutters befand. Er hielt sich mit einer Hand fest und lehnte sich über die Reling – und einen Augenblick später stürzte er ins eiskalte Wasser.
KAPITEL 13 Gerettet
Jemand, der noch nie mit Eiswasser in Berührung gekommen ist, hält es für unwahrscheinlich, dass der Tod bereits nach ein, zwei Minuten
Weitere Kostenlose Bücher