In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
eintritt. Die Kleidung bietet doch einen gewissen Schutz? Sicher, man friert, aber so schlimm kann es doch nicht sein? Zunächst verlierst du die Orientierung. Du schlägst auf das Meer wie auf eine Betonwand, in deinen Ohren blubbert und schäumt es, alles wird schwarz, du kannst nicht mehr atmen. Eine kurze Sekunde kannst du den Kopf über Wasser halten, bevor die Kälte dich wie eine Faust trifft und deine Brust einschnürt.
Du ringst um Atem, du begreifst, dass du über Bord gefallen bist, von einem Deck, auf dem du eben noch gestanden hast. Das Meerwasser, in dem du in blinder Panik strampelst, hat eine Temperatur unter null Grad. Du musst an Land, aber die Stiefel und die Kleidung ziehen dich nach unten. Du bist kurz davor aufzugeben, das Paddeln deiner Arme wird schwächer. Dann ist dein Kopf noch einmal über Wasser. Du siehst, wie die graue, rostfleckige Schiffswand sich über dir türmt. Du verstehst, dass du deine Kräfte nicht damit verschwenden darfst, um den Fischkutter herumzuschwimmen oder zu versuchen, die vier Meter hohe Kaimauer hinaufzuklettern. Beides wirst du ganz sicher nicht schaffen.
Aber dann … blitzartig geht dir durch den Kopf, dass du noch vor einem kurzen Augenblick auf eine Leiter geblickt hast. Sie kann nicht weit sein. Du überlegst, ob du es schaffen kannst, von der Wasseroberfläche aus die unterste Stufe zu erreichen. Vielleicht auf einem Wellenkamm? Es müsste doch eine leichte Dünung geben, die gibt es doch immer.
Du schaffst es, Knut . Sonst erfährst du nie, wie es geht …
Und tatsächlich – da hängt die Leiter. Irgendwie gelingt es dir, die unterste Stufe zu erreichen, dort hängst du mit den Armen und einem Bein und überlegst, wie es dir gelingen könnte, dich zur nächsten Stufe hinaufzuziehen.
Natürlich schaffst du das , denkst du, und dir kommen beinahe die Tränen vor Bewunderung über diesen Mann, von dem man keineswegs behaupten kann, er wäre durchtrainiert. Aber einen Willen hat er. Den muss er haben, dieser Beamte der Regierungsbevollmächtigten. Was zum Teufel hat er allein auf dem glatten Deck verloren, wieso schnüffelte er auf einem russischen Fischkutter herum? Was für ein Idiot.
Dir ist es irgendwie gelungen, du wälzt dich über die Reling und fällst auf die andere Seite, bleibst liegen. Nach einer Weile – du weißt nicht, wie viel Zeit vergangen ist, dir ist gleichzeitig eiskalt und fiebrig heiß – brüllt dich jemand an. Sieh zu, dass du hochkommst, du weißt, du musst … so schwer kann das doch nicht sein. Stütz dich auf die Reling, so, ja! , befiehlt dieser irritierende Polizist. Weiß er denn nicht, dass du dich gerade zu Tode frierst? Kann er dich nicht in Ruhe lassen? Die Klamotten triefen vor Seewasser, die Stiefel gurgeln bei jedem einzelnen schmerzhaft langsamen Schritt. Das Gesicht ist grau vor Kälte, der Kopf hängt auf der Brust.
Der tropfnasse, zitternde Mann stolpert über das Schiffsdeck, er geht nicht, eher schlittert er die Gangway hinunter, taumelt über den Kai. Zieht eine Spur durch den Schnee, als würde jemand einen Sack hinter sich herschleppen. Endlich steht er am Fuß der Treppen.
»Du schaffst es, Knut«, sagst du laut und enthusiastisch zu deinem Wiedergänger.
»Ja, das denke ich auch«, antwortet er und glaubt tatsächlich daran – weil er sich plötzlich, mitten in all dem Elend, daran erinnert, dass es zweihundertsiebenundfünfzig Treppenstufen bis zum Platz des russischen Grubenorts sind.
Das ist doch zu schaffen , denkst du. Du musst sie nur zählen … Aber er irrt, dieser Knut Fjeld. Auf der großen Plattform in der Mitte des Abhangs, vor dem verfallenen alten Holzhaus, stolpert er und bleibt auf dem Rücken liegen.
Kurz darauf erwachte er und sah zwei wunderhübsche Frauen als Silhouetten am Sternenhimmel – die eine klein und dick, die andere lang und schmal. Beide trugen diademförmige Kopfbedeckungen und Trachten, die vor Spitze, vergoldeten Seidenfäden und Edelsteinen glänzten.
Die große Frau beugte sich über ihn. Knut sah, dass sie stark geschminkt war.
»Können Sie uns hören?«, fragte sie. »Glauben Sie, Sie können aufstehen, wenn wir Ihnen helfen?«
Sie halfen ihm auf die Beine und schleppten ihn zu dem alten Holzhaus. Durch einen engen Gang gelangten sie in ein Zimmer, in dem sie ihn auf ein altes Sofa legten. Die ersten Minuten konnte er nicht klar denken, ihm war eiskalt. Seine Finger und Zehenspitzen schmerzten, die Tränen liefen, und er zitterte, dass die Zähne im Mund
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