In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
nächsten Morgen brachen wir sehr früh auf – mein Vater, ein paar Nachbarn und sein Hund, ein auf Elche abgerichteter Hund, der Bella hieß. Sie trugen Rucksäcke und ich meinen Schulranzen mit einer Flasche Milch und Brotstullen in einer Plastiktüte.
Ich war noch nie so früh am Morgen aufgestanden, jedenfalls nicht, um in den Wald zu gehen. Aber es war großartig, daran kann ich mich noch erinnern. Die Sonne ging gerade auf, als wir den Hof verließen. Das Heidekraut leuchtete rot auf den Hügeln, und von den Bäumen tropfte der Tau.
Sehr viel später kamen wir in die Gegend, in der wir uns auf die Lauer legen wollten. Als kleiner Junge wurde mir schnell kalt vom Stillsitzen. Ständig musste mein Vater mich ermahnen. Irgendwann muss ich dann wohl eingeschlafen sein, denn ich erwachte durch eine Art … Spannung. Keiner der Erwachsenen sagte etwas, sie saßen nur angespannt da. Ihre Blicke waren auf zwei Silhouetten geheftet, die sich durch den Morgennebel bewegten. Sie schwebten, beinahe wie in einem Traum, schaukelten auf langen Beinen. Die Männer hielten ihre Gewehre bereit, sie zielten und schossen – ein Knall, der sich für einen kleinen Jungen anhörte, als hätte man ihm mit einem Boxhandschuh aufs Ohr geschlagen. Vielleicht zuckte ich zusammen, rief irgendetwas …
Sie waren wahrscheinlich viel zu angespannt, denn es war der erste Tag der Elchjagd. Mein Vater hatte das Kalb verfehlt und die Kuh angeschossen. Sie lief in den Wald, aber wir fanden ihre Blutspur. Das Kalb sah uns ein paar Sekunden an, als wäre es verwirrt, mit welchen Wesen es zu tun hatte – an den Blick erinnere ich mich noch, sanft und braun, vorwurfsvoll und verstört zugleich. Obwohl einer der Männer sofort reagierte und auf das Kalb schoss, verschwand es rasch in der gleichen Richtung wie die Elchkuh. Zwei schnelle Sprünge ins Unterholz und sie waren verschwunden.
Mein Vater war wütend. Vielleicht enttäuscht. Er schimpfte mit mir, behauptete, ich hätte die Jäger gestört. Ich war so verletzt, wie ein kleiner Junge es nur sein kann. Aber tief in meinem Inneren war ich auch froh, dass die beiden Elche entkommen waren. Ich wollte nicht mehr jagen, ich wollte nach Hause zu meiner Mutter. Als die Erwachsenen auf einem kleinen Feuer Kaffee kochten, lief ich den Weg durch den Wald zurück, den wir gekommen waren.
Ich war noch nicht weit gekommen, vielleicht ein paar Kilometer. In meinen Augen war ich aber ganz allein im Wald. Ich fantasierte, so wie Kinder es tun. War ein bisschen stolz auf mich, dass ich den Weg nach Hause ohne die Hilfe der Erwachsenen fand, freute mich heimzukommen, um alles meiner Mutter zu erzählen. Stellte mir vor, dass sie mich loben würde.
Plötzlich stand ein Braunbär vor mir auf dem Weg. Er hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und war wahrscheinlich ebenso überrascht wie ich. Merkwürdig, dass einem Details einfallen, an die man mindestens zwanzig Jahre nicht gedacht hat.
Wilde Raubtiere sind etwas Besonderes. Ihre Wirklichkeit unterscheidet sich so grundsätzlich von unserer … Wenn du einem Braunbären in die Augen siehst, so wie ich damals, weißt du, dass er sich entschlossen hat, dich zu töten. Nicht sonderlich angenehm. Da stand ich nun allein auf dem Weg, ein kleiner Junge, mindestens einen halben Meter kleiner als der Bär. Eine leichte Beute …
Bella muss mir gefolgt sein. Sie war so schlau … Ich war mit ihr aufgewachsen, hatte zwischen ihren Pfoten gelegen und meinen Mittagsschlaf gehalten, seit ich knapp ein Jahr alt war … Bella … das ist eine lange Geschichte … ein kluger Hund. Jedenfalls stand sie plötzlich auf dem Weg. Das grauschwarze Fell stand ihr zu Berge, vom Nacken bis zur Schwanzspitze. Sie bleckte die Zähne, bellte und knurrte aus tiefster Kehle … und der Bär griff an.
Mein Vater hörte den Lärm und kam mit seinem Gewehr. Ein paar Minuten später war der Bär tot. Aber Bella hatte er schwer verletzt. Sie hatte tiefe Wunden, ein Ohr war beinahe abgerissen, Bisswunden und Risse an der Flanke. Sie blutete und lag regungslos auf dem Waldweg. Mein Vater trug sie in seinen Armen den ganzen Weg bis zum Hof.
Mein Vater liebte diesen Hund. Er redete ständig von Bella, wie gut sie eine Spur verfolgen konnte, wie gehorsam und treu sie war. Der Tierarzt kam auf den Hof, und es wurde alles getan, um den Hund zu retten. Langsam erholte sie sich, fing an zu fressen … humpelte umher, erst in der Küche, dann auf dem Hof. Als das Frühjahr kam, wurde sie wieder
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