In meinem kleinen Land
schreibe und schlafe. Selbst das Essen bestelle ich mir beim Room-Service, damit ich nicht so viel sprechen muss. Ich lutsche Hustenbonbons, nehme Proteozym, trage einen Schal und trinke Tee mit Honig.
Abends dann in die Buchhandlung. Dort geschieht ein kleines Wunder: Die Stimme hält. Sie wird sogar beim Lesen besser. Das verstehe, wer will. Ich bin sehr erleichtert. Anschließend wieder Hotel. Öffne zur Feier des Tages den Rotwein aus der Minibar und sehe mir die Champions-League-Zusammenfassung an. Glanzloses Leben.
Das Frühstück im Hotel genieße ich stumm und schweige auch bei meinem traditionellen Stadtrundgang. Braunschweiger sagen Braunkohl zu Grünkohl und haben einen Kleinstdom. Man könnte ihn auch den abgebrochenen Dom nennen. Oder den Braunschweiger Zwergdom. Die Türme dieses romanischen Kirchenbaus sehen aus wie Kerzenstummel, und tatsächlich wurden sie in den achthundert Jahren, die das Gemäuer auf dem Buckel hat, nie fertiggestellt. Aber das macht nichts. Dieser Minidom macht einen ursprünglichen und unüberladenen Eindruck. Eine sehr würdevolle Kirche, in deren Mitte das Grab von Heinrich dem Löwen und seiner Gattin Mathilde von England zu bewundern ist. Romanische Kirchen erinnern einen immer an Ritterfilme.
Braunschweig hat noch mehr auffällige Kirchen. Die Ägidienkirche ist die bemerkenswerteste. Man sieht sie schon von weitem, denn sie ist im Gegensatz zum Dom wirklich gigantisch, besonders die Fenster. Man würde sie sogar aus vielen Kilometern Entfernung sehen, wenn, ja wenn sie einen Turm besäße. Sie hat aber keinen, nicht einmal ein Türmchen. Des Öfteren haben die Braunschweiger versucht, neben der Kirche einen zu bauen, aber der Boden war zu sandig, und die Versuche sind immer wieder umgefallen. Mit Kirchtürmen haben sie es nicht so, die Braunschweiger.
Hildesheim. Auf der Flucht
3. November 2005
Diese Stadt soll sehr pittoresk sein, heißt es. Großartiges Niedersachsen mit Mittelalterfeeling. Leider merke ich davon nicht viel. Ich habe nämlich heute eine Mission: Hotel suchen. Das Zimmer, das man mir zugedacht hat, ist nämlich nicht so, wie soll ich sagen, bewohnbar. Als ich den Schlüssel von der Rezeption hole und mit meinem kleinen Gepäck den Raum betrete, überkommt mich ein Unwille, der mir sonst fremd ist. Das Zimmer ist ungefähr sieben Quadratmeter groß und eingerichtet wie eine Einzelzelle im Altersheim für schlechte Eltern.
Ich setze mich also auf die Bettkante und sehe mich um: Oben an der Decke sind kleine Rohre über Putz verlegt worden. An der Wand gegenüber hängt ein Druck, Wartezimmerkunst. Alles noch nicht so schlimm. Die Ablage ist zu klein für mein Laptop und das fensterlose Bad so freudlos, dass ich augenblicklich eine Depression bekomme. Man könnte damit leben, für eine Nacht, die man am besten betrunken verbrächte. Aber dann sehe ich den Fußnagel.
Er steckt schräg im filzigen Teppich, so als hätte er noch versucht, sich vor mir zu verstecken und erst sichtbar zu werden, wenn ich mit nackten Füßen drauflatsche. Aber ich habe ihn entdeckt und starre ihn an. Die ganze Sache hier macht keinen guten Eindruck.
So muss er sich anfühlen, Vatis erster Tag im Heim. Wird es so sein, wenn mich meine Kinder eines Tages abschieben und dann wöchentlich eine Tüte Spritzgebäck schicken, damit ich mein Taschengeld für Cognacbohnen sparen kann? Wird so meine letzte Wohnung aussehen, in die dann und wann eine mittelalte Pflegerin eintritt und sagt: «So, Herr Weiler, hast du denn schon was in die Pfanne gemacht?» In meinem Zivildienst habe ich das öfter gehört. Die Pflegeleute sagten zwar «Herr» oder «Frau», duzten dann aber ihre Schutzbefohlenen, was ich immer respektlos fand. Ich stelle mir vor, wie meine Pflegerin die Tablettendose prüft, in der farbige Pillen unterschiedlicher Größe und Farbe in den Fächern «morgens», «mittags» und «abends» auf die Einnahme warten. Sie sagt «Heute gibt es Kartoffelpüree, Herr Weiler, das magst du doch? Was guckst’n so? Is dir wohl zu klein hier, was?» Ich deute schweigend auf den Fußnagel, und meine Pflegerin hebt ihn auf und sagt: «Ach so, der. Der ist von deinem Vorgänger, dem Herrn Schmittmann. Der arme Herr Schmittmann. Es riecht noch richtig nach ihm. Na dann, woll’n wa mal lüften, nicht wahr, Herr Weiler?»
Dann gehe ich zu den Gleichaltrigen im Speiseraum. Die Frauen haben verknitterte Tätowierungen über dem Steiß, aber die kann man nicht sehen, weil sie einen
Weitere Kostenlose Bücher