In meinem kleinen Land
Pullover und den Morgenrock darüber tragen. Manche Achtzigjährige tragen Piercings in den Augenbrauen, und einer redet immerzu von der Love-Parade 1997. Er klingt wie mein eigener Opa, der oft von Russland sprach und wie er sich dort einen Granatensplitter eingefangen hat. So hat jedes Leben seine Höhepunkte.
Ich beschließe, diese Zukunftsvision sofort auszuknipsen. Es kommt der Tag, wo sie wahr wird, aber das muss ja nun nicht gerade heute sein, in Hildesheim. Ich schnappe mir die Umhängetasche und meinen Trolley und checke wieder aus. Die Dame an der Rezeption ist verwirrt. Ich will ihre Gefühle nicht verletzen und murmele etwas wie «Ich kann leider nicht hier bleiben», und dann rumple ich mit meinem Trolley über das Hildesheimer Kopfsteinpflaster, um mir eine andere Bleibe zu suchen. Ratterratterratterratter! Ich lande schließlich, als die Rädchen meines Trolleys eckig gerumpelt sind, in der Filiale einer zuverlässig langweiligen, aber komfortablen Hotelkette. Natürlich drückt das Hotelthema ein wenig auf die Laune und erzeugt eine gewisse Voreingenommenheit, was die Lesung angeht. Was ist, wenn die Hildesheimer sind wie das Hotelzimmer?
Später stehe ich vor der Entscheidung, entweder im «Ratskeller» oder im historischen «Knochenhauerhaus» eine Kleinigkeit zu essen. «Ratskeller» sind eigentlich immer Garanten für kleine schmiedeeiserne Pfännchen, in denen Böhnchen, Gemüse und deftig Geschmortes blubbern. Danach ist mir nicht, also gehe ich ins «Knochenhauerhaus», welches für sich in Anspruch nimmt, eines der schönsten Fachwerkhäuser der Welt zu sein. Und das mag auch stimmen.
Das Knochenhauerhaus wurde selbstverständlich im Krieg zerstört und erst 1989 wieder aufgebaut. Eine Bürgerinitiative und das Geld vieler Spender haben dafür gesorgt, dass es heute sehr hübsch ist. Ob die Spender jedoch unbedingt gewollt haben, dass dort Heino läuft?
«In der ersten Hütte haben wir zusammen gesessen,
in der zweiten Hütte haben wir zusammen getrunken,
in der dritten Hütte habe ich sie geküsst
und niemand weiß, was dann geschehen ist», singt der Heino.
Das Lied handelt also eigentlich vom Saufen und Fummeln mit Filmriss. Ist mir noch nie aufgefallen.
Heino war ja früher das größte Feindbild, das man sich denken konnte. Außer ihm gab es fast nur noch Heiner Geißler. Letzterer ist altersmilde und gilt heute als kluger und auch für politische Gegner angenehmer Dialektiker. Heino ist Heino geblieben, und es regt sich überhaupt niemand mehr darüber auf. Seine Auftritte im Südafrika des Apartheidregimes und die Aufnahme des Deutschlandliedes mit allen drei Strophen sind nur Randnotizen in seinem Lebenslauf. Alles wird zugedeckt vom Appetit. Heino betreibt ein Café in Bad Münstereifel. Ich nehme daher als Dessert ein Stück Kuchen. Und Kaffee.
Auf meinem Spaziergang fällt mir eigentlich nichts Besonderes an Hildesheim auf. Die haben knapp 104 000 Einwohner hier. Das bedeutet: Hildesheim ist offiziell eine Großstadt. Merkt man aber gar nicht. Das hat damit zu tun, dass dieser Status durch Eingemeindungen ringsum erworben wurde. Das gibt es öfter. Ich frage mich, was das soll, denn am Eindruck, dass es sich hier um ein entzückendes Provinznestlein handelt, ändert es ja nichts. Aber an der Besoldung von Bürgermeistern und anderen städtischen Bediensteten wohl schon, nehme ich an. Genau das könnte der Grund dafür sein, dass man als Politiker so wild darauf ist, eine Großstadt zu regieren. Bringt Kohle. Mein Heimatörtchen in Bayern müsste, um diesen Status zu erlangen, wahrscheinlich alle Orte im Umkreis von vierzig Kilometern eingemeinden, darunter auch München.
Vellmar. Frank Schirrmacher fährt aus Gleis zehn
4. November 2005
Wenn Sie den Ort Vellmar jetzt nicht kennen, oder wie man heute sagt: jetzt nicht gleich parat haben, dann ist das nicht so schlimm. Vellmar ist nämlich ganz jung und klein und grenzt nördlich an Kassel. Mein Hotel liegt in einem tatsächlich noch kleineren Ort namens Espenau, direkt neben einer Barackensiedlung, die einst für Fremdarbeiter gebaut wurde. Ob es in Vellmar auch Publikum gibt, das auf Lesungen geht? Ich habe meine Zweifel, denn in dieser Gegend hatte ich einmal die merkwürdigste Lesung meines Lebens. Das war so: Damals, es war im Winter, buchte man mich also für einen Auftritt an einem Samstagmorgen «in die Nähe von Kassel», wie es euphemistisch hieß, tatsächlich habe ich den Namen des Ortes vergessen. Am
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