In meinem kleinen Land
ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe holte mich an einem Freitagabend ein Mann ab, der mit mir durch die geradezu Grimm’sche Dunkelheit dieses Landstrichs fuhr und mich mit Anekdoten aus dem kulturellen Leben der Gemeinde unterhielt. Wir stoppten an einer Gaststätte, wo er mich bat, eine regionale Wurstspezialität (sehr hart, sehr, sehr hart) zu verzehren, dann fuhren wir weiter durch die Nacht, bis zu einem Ort, der von genau einer Laterne beschienen wurde.
Von weitem kam ein Auto auf uns zugefahren. Der Mann stieg aus und winkte. Das Auto hielt an und eine Frau stieg aus. Es war so, wie man sich den Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke vorstellt. Der Mann gab mir die Hand und sagte: «Gute Nacht und bis morgen früh.» Dann stieg ich zu der Frau ins Auto, und wir fuhren über eine schnurgerade und sehr schmale Straße kilometerweit im Stockfinsteren bis zu einem Bauernhof. Die Frau schloss eine Tür auf und sagte: «Gute Nacht und bis morgen früh.»
Ich übernachtete in einer ungeheizten Wohnung, in der wohl im Sommer Feriengäste Urlaub machten. Jedenfalls war es schrecklich kalt, und man sah nichts, wenn man aus dem Fenster sah. Das änderte sich auch am Morgen nicht. Ich schob die Gardinen zur Seite und erblickte nur Acker, nichts als Acker. Kein Baum, kein Growian, kein Haus, nicht einmal ein Kernkraftwerk wies hier auf Zivilisation hin. Eigentlich schon wieder toll.
Die Frau holte mich aus der Wohnung, und wir setzten uns in ihren Wagen, in dem wir nun eben im Hellen durchs absolute Nichts fuhren. «Frühstück gibt es dort, wo wir hinfahren.»
Bisher hatte ich geglaubt, wir führen zur Volkshochschule, denn der Mann, der mich abgeholt hatte, war von der Volkshochschule. Nun erfuhr ich, wo und für wen ich an diesem Samstagmorgen tatsächlich lesen sollte: für den Landfrauenverband, genauer gesagt für das samstägliche gemeinsame Frühstück der Landfrauen in einer Mehrzweckhalle.
Es standen große runde Tische darin, für je sechs bis zehn Landfrauen, und in der Mitte ein Büfett von grotesker Größe, das in der Mitte mit einem Blumenbouquet verziert worden war. Es erschienen hungrige Landfrauen sonder Zahl, und dann wurde gefrühstückt. Ich aß wenig.
Nach einer halben Stunde klopfte die Oberlandfrau an ihre Tasse und sagte: «So. Lecker. Und jetzt wird gelesen. Bitte.» Klatschklatschklatsch. Ich fragte leise, wo ich denn nun zum Lesen hingehen müsse, und sie deutete Richtung Büfett.
Hinter dem Büfett stand ein kleines Tischlein, und daran setzte ich mich nun, gut versteckt hinter dem Blumenschmuck und sehr viel Streichleberwurst, und begann, meinen Text zu lesen, nein: zu rufen. Es war nämlich kein Mikrophon da, und es war ein großer Raum und sehr viel Bewegung, weil man ja immer mal Hunger bekommt, wenn irgendwo ein Büfett aufgebaut ist. Dann geht man halt hin und holt sich noch eine Scheibe Brot und, na, vielleicht ein Scheibchen Zungenwurst, während hinter den Blumen einer liest.
Nachdem ich eine knappe Stunde meinen Text dem mäßig enthusiasmierten Publikum zugerufen hatte, wurde dieses langsam unruhig. Ich beendete meinen Vortrag und erhob mich, worauf mich eine Menge Frauen sehr überrascht ansahen, weil sie gedacht hatten, die Stimme vorher sei vom Band gekommen. Vereinzeltes Klatschen, und dann stoben die Landfrauen aus dem Saal, was der Volkshochschulmann damit erklärte, dass die Damen samstags auch viel zu tun hätten, und die Lesung sei ja doch inklusive Frühstück sehr lang gewesen. Dann brachte er mich zum Zug, und als ich im ICE nach München saß, kam ich mir vor, als sei ich aus einem Traum erwacht oder aus einem Märchen. Es ist die Gegend, wo die Gebrüder Grimm Märchen gesammelt haben.
Das Hotel hat sich auf Familienfeiern spezialisiert. In der Lobby hängen kleine Schilder, wer hier heute in welchem Saal wie alt wird. Der Parkplatz ist gerammelt voll, genau wie das Hotel.
Die Lesung findet im Bürgerhaus Vellmar-West statt. Na, das kann ja heiter werden, denke ich, als wir aus dem Auto steigen. Ich muss gleich wieder an die Landfrauen denken. Aber heute ist alles anders, ganz anders als damals. Es macht heute wirklich großen Spaß. In der vierten Reihe sitzt eine wunderschöne Frau, und überall sehe ich in wohlgesinnte Gesichter. Ein merkwürdiges Fleckchen ist das hier, denn das war wirklich nicht zu erwarten.
Am nächsten Morgen wieder im Zug nach Hause. Zeitung lesen, Musik hören, zwischendurch auch mal Stille, aus dem Fenster gucken und auf
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