In Nomine Mortis
Nacht wieder in meiner Zelle zu verbringen. Ich war erleichtert, nicht
noch einmal in der Dunkelheit im Spital ausharren zu müssen - und
dabei womöglich wieder dem Unbekannten zu begegnen. Der Prior gab mir
zudem einen Dispens für die Nacht, sodass ich nicht an den
Gottesdiensten teilnehmen musste. So ging ich denn in meine Zelle zurück,
wartete, bis das Kloster still wurde für die Nacht — und entzündete
meine Kerze. Wieder studierte ich den
»Liber floribus«. Zugleich bemühte ich mich,
auf den Gang hinauszulauschen, ob ich womöglich erneut verdächtige
Geräusche hören würde. Vergebens.
Weder fand ich beim zweiten
Lesen des Folianten eine Spur, die ich beim ersten Mal übersehen
hatte, noch hörte ich im Kloster irgendetwas, das mir verdächtig
vorkam.
Deshalb rief ich mich
irgendwann zur Ordnung und ermahnte mich, meine Sinne nicht erneut zu
überreizen. So fiel ich denn endlich in einen tiefen, traumlosen
Schlaf.
Am nächsten Morgen aß
ich das Morgenmahl mit meinen Mitbrüdern im Speiseraum, wo mich der
eine oder andere mit einem freundlichen, aufmunternden Nicken bedachte.
Ich ahnte, dass ich noch blass sein musste, doch erwiderte ich lächelnd
die Gesten. Meister Philippe allerdings konnte ich nicht begrüßen,
denn er war schon verschwunden — und niemand wusste, wohin.
Zur Terz ging ich wieder in
die Kirche, doch danach ruhte ich in meiner Zelle. Ich musste wieder zu Kräften
kommen, denn im Kloster würde ich die Geheimnisse, die meine Seele
plagten, nicht lösen können. Dabei nutzte ich die stillen
Stunden in dem kleinen, kahlen Raum zum Nachdenken.
Ich musste herausfinden, was
es mit dem rätselhaften Land namens terra perioeci auf sich hatte. Welche Verbindung
gab es von diesem Land — oder von einer Seekarte — zu Nechenja
ben Isaak und Heinrich von Lübeck? Hatte Richard Helmstede etwas
damit zu tun?
Welche Rolle spielte der
Vagant Pierre de Grande-Rue, der den toten Mönch ausgeraubt hatte und
der das Messer so beängstigend gut zu führen verstand? Wo mochte
er sich versteckt halten? Warum musste der Domherr Nicolas d'Orgemont
sterben?
Und hatte Jacquette, die unglückliche
Schönfrau, mir wahrhaftig alles gesagt, was sie in jener Nacht
gesehen hatte?
Was hatten all die nächtlichen
Begebenheiten in meinem Kloster zu bedeuten? Oder war dies alles nur eine
Vision meiner irregeleiteten Einbildungskraft?
»Terra perioeci«, murmelte ich. Irgendwie lag hier
der Schlüssel zu allen Geheimnissen verborgen.
Ich seufzte und streckte mich
auf der Pritsche aus. Am nächsten Tag, so beschloss ich, würde
ich zum Kollegium de Sorbon an der Universität gehen. Dort befand
sich eine der größten Bibliotheken der Christenheit. Wenn ich
in diesen Werken keinen weiteren Hinweis auf die terra perioeci fand — wo dann?
*
Doch kam es am nächsten
Morgen anders, als ich es geplant hatte. Es war der Peter-und-Pauls-Tag,
der Juni neigte sich seinem Ende zu und die Hitze stand wie ein drückender,
unsichtbarer Schleier in den Straßen.
Wieder halbwegs bei Kräften,
verließ ich das Kloster und wandte mich nach rechts. Doch hatte ich
noch keine drei Schritte getan, als ich die Dienerin von Klara Helmstede
erblickte. Wie stets, so vermied sie es auch an diesem Tag, mir in die
Augen zu blicken. Mir machte dies nichts aus, vielmehr schlug mein Herz
vor Freude bis zum Halse. Sie hatte im Schatten eines Torbogens gestanden
und wahrlich auf mich gewartet!
Nun eilte sie zu mir, besann
sich dann jedoch darauf, dass es unschicklich und wohl auch zu auffällig
wäre, einen Mönch auf offener Straße anzusprechen. So
verlangsamte sie ihren Schritt, während auch ich, den Kopf gesenkt,
wieder losmarschierte. Wer uns erblickte, mochte denken, dass wir nichts
miteinander zu schaffen hatten und nur zufällig nebeneinander unseres
Weges gingen. »Meine Herrin wünscht Euch zu sehen«, flüsterte
die Dienerin.
»Wann?«, zischte
ich zurück und vermochte meinen Jubel kaum zu bezähmen.
»Heute morgen noch«,
antwortete sie, dann schritt sie eiliger aus. Ich musste ihr nur folgen,
es war nicht nötig, dass wir weitere Worte wechselten.
Ich dachte nicht einen
Augenblick daran, Klaras Wunsch nicht nachzukommen. Zwar musste das
Kollegium de Sorbon nun warten und ich würde nichts Neues erfahren
über die Geheimnisse der terra perioeci, doch größer noch als
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