In Nomine Mortis
abgeschrieben werden muss, und
wer hätte sich nicht über die Fehler und Nachlässigkeiten
eines Kopisten erregt? Wie oft kommt es doch vor, dass ein Schreiber, ermüdet
vom stundenlangen Tun und vielleicht auch von der Geistesschwere des
Textes, den er zu kopieren hat, ein und dieselbe Zeile zweimal abschreibt
und dafür eine andere auslässt! Unzählig die traurigen
Beispiele, da selbst in heiligsten Texten Wörter vergessen oder durch
andere, dem Schreiber geläufigere ersetzt werden. Manchmal fehlen gar
ganze Seiten oder Kapitel, weil der Kopist am Morgen nicht mehr weiß,
wo er am Abend zuvor seine Arbeit unterbrochen hat, und das Werk, aus dem
er abschreibt, an falscher Stelle aufschlägt!
Ich hoffte sehr, dass auch
beim »Liber
floribus« aus der Bibliothek des Geldwechslers einem Kopisten ein misslicher Fehler
unterlaufen sei. Und dass hier, in der edleren Ausgabe im Kollegium de
Sorbon, doch vielleicht mehr zu lesen sei über das rätselhafte
Land der Periöken.
Doch es dauerte nicht lange,
da ward all meine Hoffnung mehr als bitterlich enttäuscht. Denn wie
erschrocken war ich, als ich die Weltkarte aus dem »Liber floribus« aufschlug: Die terra perioeci fehlte! Ich rieb meine Augen und
wollte es nicht glauben, doch die Karte zeigte dort, wo jenes Exemplar aus
der Bibliothek des Nechenja ben Isaak Land gezeigt hatte, nur
unbeschriebenes Pergament. Meine Knie drohten nachzugeben und so klammerte
ich mich an das Lesepult und bemühte mich, keine Aufmerksamkeit zu
erregen. Als mein Atem wieder ruhiger ging, besah ich mir die Karte noch
einmal genauer. Ich nahm den »Liber floribus« hoch und ließ das Licht aus
den Fenstern durch das aufgeschlagene Pergament scheinen. Da erkannte ich
es: Jemand hatte mit einem feinen Schabmesser an jener Stelle das schwere
Pergament um eine Winzigkeit abgetragen — gerade genug, um die
Tinte, mit der dort einst etwas verzeichnet war, auszulöschen.
Jemand hatte die terra perioeci aus der Landkarte des Buches
getilgt. Ich betastete das Blatt und fuhr dann vorsichtig mit den
Fingerkuppen über das Pergament. Kein Zweifel: Die Ränder an der
Ausschabung waren noch hart. Wäre die Austilgung vor Dutzenden oder
sogar Hunderten von Jahren gemacht worden, längst wäre die
Stelle durch die Feuchtigkeit wieder leicht aufgequollen, längst wären
die winzigen Ränder der Schabspuren durch das Gewicht vieler darüber
liegender Seiten bis zur Unfühlbarkeit zusammengedrückt worden.
Diese Tilgung jedoch war noch gut zu ertasten und konnte deshalb erst vor
kurzem von jemandem vorgenommen worden sein. Vorsichtig schloss ich den
Folianten und blickte starr geradeaus. Was sollte ich nun tun?
Mir schauderte und es war
mir, als habe mich etwas Kaltes, Dämonisches gestreift, etwas
unsagbar Finsteres und unendlich Böses. Etwas, das größer
ist als der Mensch und doch nicht GOTTES ist. Wie lange ich so dastand und
fröstelte, obwohl doch die Sommerhitze auch diese Halle erwärmte,
weiß ich nicht mehr. Mich kümmerte nicht, ob mich die anderen Mönche
anstarrten oder nicht. Endlich wachte ich aus meiner Erstarrung auf, griff
mir den »Liber
floribus« mit
einer fast zornigen Geste und trug ihn vom Pult bis zur Schranke. Dort
eilte mir Magister Froissart entgegen, die Kladde bereits unter dem Arm.
»Wer hat dieses Buch
vor mir gelesen?«, fragte ich. Ich gab mir keine Mühe mehr, mir
eine Täuschung auszudenken, es war mir gleichgültig, was der
Bibliothekar von meinem Begehr hielt — solange er mir nur gehorchte.
Jean Froissart zögerte
kurz, doch dann zuckte er mit den Achseln. »Ich werde es für
Euch nachsehen, Bruder Ranulf«, sagte er kühl. Er blätterte
eine Weile in der Kladde, dann nickte er und wies mit dem Finger auf eine
Zeile.
»Da, seht!«, rief
er. »Ich erinnere mich noch, denn es war außerordentlich spät
am Abend, als jemand dieses Buch zu sehen wünschte. Ich selbst war
nur noch durch einen Zufall hier und wollte gerade die Bibliothek abschließen.
Doch er bestand darauf und so brachte ich es ihm.«
»Wer war es?«,
fragte ich atemlos.
»Ein Dominikaner«,
antwortete Froissart. »Sein Gesicht sah ich nicht, denn es war ja,
wie ich Euch sagte, bereits spät. Nur Kerzen erhellten zu jener
Stunde den Raum. Euer Mitbruder hatte seine Kapuze hochgeschlagen, sodass
seine Züge im Dunkeln lagen, doch er hat mir ja seinen Namen gegeben.
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