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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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abgeschrieben werden muss, und
     wer hätte sich nicht über die Fehler und Nachlässigkeiten
     eines Kopisten erregt? Wie oft kommt es doch vor, dass ein Schreiber, ermüdet
     vom stundenlangen Tun und vielleicht auch von der Geistesschwere des
     Textes, den er zu kopieren hat, ein und dieselbe Zeile zweimal abschreibt
     und dafür eine andere auslässt! Unzählig die traurigen
     Beispiele, da selbst in heiligsten Texten Wörter vergessen oder durch
     andere, dem Schreiber geläufigere ersetzt werden. Manchmal fehlen gar
     ganze Seiten oder Kapitel, weil der Kopist am Morgen nicht mehr weiß,
     wo er am Abend zuvor seine Arbeit unterbrochen hat, und das Werk, aus dem
     er abschreibt, an falscher Stelle aufschlägt!
    Ich hoffte sehr, dass auch
     beim »Liber
     floribus« aus der Bibliothek des Geldwechslers einem Kopisten ein misslicher Fehler
     unterlaufen sei. Und dass hier, in der edleren Ausgabe im Kollegium de
     Sorbon, doch vielleicht mehr zu lesen sei über das rätselhafte
     Land der Periöken.
    Doch es dauerte nicht lange,
     da ward all meine Hoffnung mehr als bitterlich enttäuscht. Denn wie
     erschrocken war ich, als ich die Weltkarte aus dem »Liber floribus« aufschlug: Die terra perioeci fehlte! Ich rieb meine Augen und
     wollte es nicht glauben, doch die Karte zeigte dort, wo jenes Exemplar aus
     der Bibliothek des Nechenja ben Isaak Land gezeigt hatte, nur
     unbeschriebenes Pergament. Meine Knie drohten nachzugeben und so klammerte
     ich mich an das Lesepult und bemühte mich, keine Aufmerksamkeit zu
     erregen. Als mein Atem wieder ruhiger ging, besah ich mir die Karte noch
     einmal genauer. Ich nahm den »Liber floribus« hoch und ließ das Licht aus
     den Fenstern durch das aufgeschlagene Pergament scheinen. Da erkannte ich
     es: Jemand hatte mit einem feinen Schabmesser an jener Stelle das schwere
     Pergament um eine Winzigkeit abgetragen — gerade genug, um die
     Tinte, mit der dort einst etwas verzeichnet war, auszulöschen.
    Jemand hatte die terra perioeci aus der Landkarte des Buches
     getilgt. Ich betastete das Blatt und fuhr dann vorsichtig mit den
     Fingerkuppen über das Pergament. Kein Zweifel: Die Ränder an der
     Ausschabung waren noch hart. Wäre die Austilgung vor Dutzenden oder
     sogar Hunderten von Jahren gemacht worden, längst wäre die
     Stelle durch die Feuchtigkeit wieder leicht aufgequollen, längst wären
     die winzigen Ränder der Schabspuren durch das Gewicht vieler darüber
     liegender Seiten bis zur Unfühlbarkeit zusammengedrückt worden.
     Diese Tilgung jedoch war noch gut zu ertasten und konnte deshalb erst vor
     kurzem von jemandem vorgenommen worden sein. Vorsichtig schloss ich den
     Folianten und blickte starr geradeaus. Was sollte ich nun tun?
    Mir schauderte und es war
     mir, als habe mich etwas Kaltes, Dämonisches gestreift, etwas
     unsagbar Finsteres und unendlich Böses. Etwas, das größer
     ist als der Mensch und doch nicht GOTTES ist. Wie lange ich so dastand und
     fröstelte, obwohl doch die Sommerhitze auch diese Halle erwärmte,
     weiß ich nicht mehr. Mich kümmerte nicht, ob mich die anderen Mönche
     anstarrten oder nicht. Endlich wachte ich aus meiner Erstarrung auf, griff
     mir den »Liber
     floribus« mit
     einer fast zornigen Geste und trug ihn vom Pult bis zur Schranke. Dort
     eilte mir Magister Froissart entgegen, die Kladde bereits unter dem Arm.
    »Wer hat dieses Buch
     vor mir gelesen?«, fragte ich. Ich gab mir keine Mühe mehr, mir
     eine Täuschung auszudenken, es war mir gleichgültig, was der
     Bibliothekar von meinem Begehr hielt — solange er mir nur gehorchte.
    Jean Froissart zögerte
     kurz, doch dann zuckte er mit den Achseln. »Ich werde es für
     Euch nachsehen, Bruder Ranulf«, sagte er kühl. Er blätterte
     eine Weile in der Kladde, dann nickte er und wies mit dem Finger auf eine
     Zeile.
    »Da, seht!«, rief
     er. »Ich erinnere mich noch, denn es war außerordentlich spät
     am Abend, als jemand dieses Buch zu sehen wünschte. Ich selbst war
     nur noch durch einen Zufall hier und wollte gerade die Bibliothek abschließen.
     Doch er bestand darauf und so brachte ich es ihm.«
    »Wer war es?«,
     fragte ich atemlos.
    »Ein Dominikaner«,
     antwortete Froissart. »Sein Gesicht sah ich nicht, denn es war ja,
     wie ich Euch sagte, bereits spät. Nur Kerzen erhellten zu jener
     Stunde den Raum. Euer Mitbruder hatte seine Kapuze hochgeschlagen, sodass
     seine Züge im Dunkeln lagen, doch er hat mir ja seinen Namen gegeben.
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