In Nomine Mortis
stand ich am Lesepult
und starrte betäubt ins Nichts. Was mochte dies bedeuten? Wo also lag
jenes Land der Periöken? Viel weiter war ich mit meiner Suche nicht
gekommen. Und doch: Es lag jenseits eines Ozeans, viele Tagesreisen
entfernt von Griechenland. Welches Meer mochte dies sein? Meinte Xenophon
die Griechenland gegenüberliegende Seite des Mittelmeeres, also
vielleicht Spanien oder das Land der Mauren? Oder dachte er an jene
Ozeane, welche das Abendland von Babylon, Indien oder gar vom legendären
Cathay trennen, wenn es dieses Land tatsächlich gibt? Oder musste ich
das Land nicht vielmehr in jenem Atlantischen Ozean vermuten, in dem auch
Britannien liegt?
Ich dachte an die Karte des
Castorius, auf die ich kaum mehr als einen flüchtigen Blick geworfen
hatte. Ich dachte daran, dass die unbekannten Mönche einem Reeder aus
Lübeck, der die Meere des Nordens befuhr, ihre Befehle gegeben
hatten.
Wäre das Meer Richtung
Indien gemeint gewesen, hätten sich die Dominikaner dann nicht eher
an einen der Kaufleute aus Venedig oder Genua gewandt, deren Galeeren ja
schon beinahe jene Weltgegend befuhren?
Es war wahrscheinlicher, dass
das Land der Periöken im Atlantik lag, nördlich oder gar
jenseits von Britannien. Sonst hätte ein Mann wie Richard Helmstede,
dessen Koggen doch jedes Jahr Britannien anliefen, sicherlich schon längst
davon gehört — und ebenso sein Steuermann Gernot.
Ich erbat mir von Magister
Froissard, in dessen Gunst ich inzwischen sehr gestiegen war, ein Blatt
Pergament, Feder und Tinte. Er war höflich genug, mir alles zu
bringen, ohne mich zu fragen, wozu ich es benötigte. Dann kopierte
ich rasch jene Sätze des Xenophon. Nachdem ich dies getan, die »Anabasis« zurückgegeben und dem
Bibliothekar meinen Dank ausgesprochen hatte, schleppte ich mich müde
ins Freie, hinaus auf die Place Maubert.
Mein Rücken und meine
Glieder schmerzten, in meinen Augen brannte Feuer, meine Kehle war
trocken, doch ich beachtete diese Beschwerden kaum. Die Mühsal der
Arbeit schließlich ist GOTTES Strafe für den Sündenfall
von Adam und Eva. Doch süß ist die Arbeit, wenn sie Früchte
trägt. Zum ersten Mal seit vielen Tagen glaubte ich, dass ich
wenigstens eine Frucht des Wissens gekostet, dass ich wenigstens um eine
Winzigkeit der Lösung des Rätsels näher gekommen war.
*
So beseelt war ich von diesem
kleinen Triumph, dass es einige Momente dauerte, bis ich gewahrte, dass
die Leute auf dem Platz noch sehr viel lauter durcheinanderschrieen als
gewöhnlich. Ich war schon halb über die Place Maubert geeilt und
hatte das steinerne Kreuz Croix Hemon passiert, als ich verstand, was die
Menschen so erregte.
»Die Seuche ist da!«,
kreischte eine junge, gut gekleidete Bürgersfrau und achtete dabei
nicht darauf, wie würdelos sie sich aufführte. »In La
Villette fallen Männer und Frauen wie Getreide vor dem Schnitter«,
rief ein Bauer. »Die Toten liegen in den Straßen, dass kein
Durchkommen mehr ist.«
»Und im Temple hauchen
die Gefangenen ihr elendes Leben aus. Man sagt, dass nur noch Tote in dem
Kerker liegen«, fiel ein Marktweib ein.
So ging es in einem fort. Ein
jeder schrie so laut wie er konnte und wusste immer noch schauerlichere
Geschichten zu erzählen von Krankheit und Tod. Alle diese
grauenhaften Dinge sollten sich jenseits der Stadtmauern zugetragen haben,
mal im Westen, mal im Osten, dann wieder im Süden oder im Norden.
Gesehen hatte es niemand, gehört hatte davon jeder. So wurden die
Stimmen immer lauter, als wäre ein heftiger Streit entbrannt - obwohl
doch keiner eine andere Meinung zu äußern wagte als die, dass
der Tod nun vor den Toren reiche Ernte hielte.
Statt demütig und
ehrlich um Reue bemüht in die nächste Kirche zu streben und vor
GOTT ihre Sünden zu bekennen, solange sie dies noch vermochten, brüllten
und gestikulierten die Menschen wie tollwütige Tiere. Fast vermeinte
ich, eine grimmige Befriedigung in ihren Stimmen zu hören, eine
wahnsinnige Freude daran, dass die seit Wochen gefürchtete Seuche nun
endlich in der Stadt angekommen war.
Ich fürchtete mich mehr
vor der ziellosen Wut der Menge als vor der Krankheit, denn kein Leiden,
das uns der HERR schickt, kann so grausam und unberechenbar sein wie die
einmal entflammte Leidenschaft der Menschen. Also schlug ich meine Kapuze
hoch und wollte weitereilen, da spürte ich, wie mich
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