In Nomine Mortis
Ptolemaeus ist
aus dieser Bibliothek verschwunden, als hätte es hier nie existiert.«
»Wer hat sich die Bücher
zuletzt ausgeliehen?«, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme
nicht die Angst verriet, die mich gepackt hatte. Magister Jean Froissart
schüttelte jedoch nur den Kopf und seufzte. »Niemand. Zumindest
nicht in den vergangenen Wochen. Der letzte Eintrag in meinen Büchern
ist schon über ein Jahr alt. Seither hat niemand mehr nach dem
Ptolemaeus verlangt. Der HERR allein mag wissen, wann die Bücher in
den letzten Monaten verschwunden sind - und wie.« Der Bibliothekar
schlug das Kreuz. Er sah so aus, als würde er gleich in Tränen
ausbrechen.
»Wer war es denn, der
das Werk vor so langer Zeit zu sehen wünschte?«, hakte ich
nach, als Magister Froissart sich wieder gefangen zu haben schien. »Wisst
Ihr noch seinen Namen?«
»Es war einer Eurer
Mitbrüder«, sagte da der Bibliothekar leise, »und
vielleicht der berühmteste Dominikaner von Paris: Philippe de
Touloubre.«
Nun war es an mir, mich an
das Pult zu klammern, um nicht, gelähmt vor Angst, zu Boden zu stürzen.
»Was redet Ihr da?«,
fragte ich keuchend.
»Es gibt keinen Zweifel«,
versicherte Magister Froissart, »Philippe de Touloubre verlangte im
letzten Sommer einen Band des Ptolemaeus zu sehen, den zweiten.«
»Die anderen nicht?«
Der Bibliothekar schüttelte
den Kopf. »Darüber habe ich zumindest keine Einträge
gefunden.«
»Könnt Ihr Euch
noch an jenen Tag erinnern?«, drängte ich. »War Meister
Philippe lange in Eurer Bibliothek? War er allein?« Magister
Froissart dachte lange nach. »Nun«, antwortete er schließlich
zögernd, »ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten
erinnern. »Ich glaube, dass er damals wohl zur Mittagszeit hierher
gekommen ist und das Buch von mir erbat. Begleitet wurde er von niemandem.
Dann studierte er das Werk viele Stunden lang. Ich weiß noch, dass
es draußen bereits dunkelte und dass alle Studenten den Lesesaal
…«
Er hielt inne und fasste sich
mit zitternder Hand an den Kopf. »Was habt Ihr?«, fragte ich
und ahnte Böses.
»Es war spät«,
flüsterte Magister Froissart, »jetzt erinnere ich mich wieder.
»Ich musste viele Folianten wegräumen. Niemand sonst war mehr
zugegen, außer Philippe de Touloubre und mir. Da erbot sich dieser,
den Band des Ptolemaeus selbst in die Truhe zurückzutragen, da ich
doch so beschäftigt sei. Dankbar nahm ich dieses Anerbieten an. Nicht
im Traum misstraute ich ihm, denn er war schließlich Inquisitor!«
»Habt Ihr Meister
Philippe gesehen, als er Eure Bibliothek verließ?«, fragte
ich.
Magister Froissart schüttelte
den Kopf. »Nein, ich achtete seiner nicht mehr.«
»Wie viele Abschriften
hatte Eure Bibliothek von dem Werk des Ptolemaeus?«
»Wir besaßen zwei
Exemplare von jedem Band. Eine Abschrift, die wohl schon dreihundert Jahre
alt ist, und eine, die wir erst vor einigen Jahren haben anfertigen
lassen, da bei den alten Bänden langsam das Pergament mürbe
wurde und die Schrift verblasste.«
»Sechzehn Bände
sind viel«, murmelte ich. »Doch ich erinnere mich meiner Zeit,
da ich den Ptolemaeus studieren musste: Jeder einzelne Band war schmal und
hatte kaum so viele Seiten wie ein Psalter. Ein Mann allein mag diese Bände
schleppen können, wenn er einen Lederbeutel oder etwas Ähnliches
bei sich trägt - und dieser ließe sich gut unter einer Kutte
verstecken.«
Magister Froissart blickte
mich entsetzt an. »Sagt nicht laut, dass Ihr einen Inquisitor des
Diebstahls verdächtigt!«, flehte er mich an. »Das ist gefährlich.
Außerdem ist es durch nichts zu beweisen. Warum sollte ein
Dominikaner außerdem alle Werke des Ptolemaeus stehlen?«
»Das«, flüsterte
ich, »ist eine gute Frage.«
*
Ich verbrachte noch so
manchen Tag in der Bibliothek. Doch je mehr ich las, desto höher türmten
sich vor mir die Rätsel auf, bis ich glaubte, dass mein Geist von
allen Seiten eingemauert sei, und ich mich lebenden Leibes begraben fühlte.
Da ich den Ptolemaeus nicht
lesen konnte, beschloss ich, andere Werke der heidnischen Autoren zu
studieren, auf dass ich dort vielleicht Spuren fände, die mir
weiterhelfen konnten. Doch je länger ich las, desto größer
wurde die namenlose Furcht, die in mir wuchs. Ich ließ mir den
Livius kommen und Cassius Dio, Plutarch und Sueton, Cicero und Marcus
Aurelius. Doch
Weitere Kostenlose Bücher