In Nomine Mortis
nirgends wurde auch nur der Name des berühmtesten
Geografen der Alten erwähnt. Keine Zeile las ich über
Ptolemaeus, keinen Hinweis auf sein Werk, kein Zitat.
Ich wurde immer unruhiger und
wandte mich den Kirchenvätern alter Zeit zu: Tertullian und
Augustinus las ich, Lactantius und Eusebius. Schließlich studierte
ich den Isidor von Sevilla, der doch das ganze Wissen seiner Zeit
zusammengetragen hatte. Nichts, nichts und wieder nichts! Dicit ei Pilatus quid est
veritas?
Was ich jedoch entdeckte,
waren - mal in diesem Buch, mal in jenem — herausgetrennte Seiten;
Stellen, die jemand, wie mir schien erst in jüngster Zeit, mit
schwarzer Tinte unleserlich gemacht hatte; Zeilen, die mit einem
Schabmesser aus dem Pergament gelöscht worden waren.
Stets ging es auf diesen
Seiten um Geografie und um die Gestalt der Welt, der Meere und der Länder.
War es möglich, dass
jemand alle Bücher genommen und überall den Namen des Ptolemaeus
gelöscht hatte? So, als hätte es ihn und sein Werk nie gegeben?
Warum las ich zudem nie von einem Castorius aus Ravenna? Weshalb gab es in
keinem Werk eine Beschreibung der terra perioecp.
Die kalte Faust der Angst
schloss sich um mein Herz, als ich an einem Vormittag nicht zum Kolleg de
Sorbon gegangen war, sondern mich in die Bibliothek des Klosters in der
Rue Saint-Jacques zurückgezogen hatte.
Den Ptolemaeus auszuleihen
wagte ich nicht, aus Angst, dass dies die Aufmerksamkeit Meister Philippes
erregt hätte. Doch ich ließ mir von einem Novizen einige der
anderen Werke der Alten bringen — überall waren dieselben
Seiten herausgetrennt, die gleichen Zeilen gelöscht worden.
Waren in ganz Paris die Texte
auf gleiche Art von unbekannter Hand verstümmelt worden? Oder gar
überall im Abendland? Wer vermochte Derartiges zu tun — wenn
nicht die Inquisition? Die Mönche der Heiligen Inquisition waren
gelehrt, sie kannten vielerlei Schriften, sie hatten Zugang zu jeder
Bibliothek. Sie waren wohl organisiert in vielen Ländern der
Christenheit. Doch warum sollte die Inquisition Bücher verändern?
Weshalb vernichteten sie Texte über Geografie? Selbst wenn diese
Texte, warum auch immer, ketzerisch sein sollten: Warum erklärten sie
den Ptolemaeus und die anderen Werke nicht einfach vor GOTT und der Welt
zur Häresie und verboten allen guten Christen, sie zu studieren?
Warum diese Heimlichkeit? Wozu dieser ungeheure, doch lautlose Aufwand?
Lag in diesen Fragen irgendwo
die Antwort auf das Rätsel der Ermordung Heinrichs von Lübeck
verborgen? Musste er sterben, weil er dem Geheimnis um die terra perioeci auf die Spur gekommen war?
Erwartete dann jeden, der dieses Geheimnis anzutasten wagte, das gleiche
Schicksal? Drohte auch mir der Tod?
Seit ich als Findelkind des
Dominikanerklosters zu Köln das Lesen erlernt hatte, war mir die
Gelehrsamkeit immer als zwar steiniger, doch sicherer Weg zu Glück
und Seelenheil erschienen. Bibliotheken — jene ruhigen Räume
mit ihrem Geruch nach Pergament, Leder, Tinte und dem Staub der
Jahrhunderte — waren mir Inseln des Friedens gewesen, ja geweihte
Orte, Kirchen gleich.
Nun jedoch fühlte ich
mich wie ein Schlafwandler, der plötzlich erwacht und sich mitten auf
einem Schlachtfeld wiederfindet, wo sich finstere Ritter gnadenlos bekämpfen.
Bibliotheken, so lernte ich nun, waren unsichtbare Blutacker und Bücher
waren Schwert und Gift. Was sollte ich nur tun?
Sollte ich gehen und mein
Herz verschließen und nicht mehr nach Texten suchen, die es nicht
geben durfte?
Doch hätte ich damit
nicht Klara und Lea im Stich gelassen? Hätte ich damit nicht das
Andenken an Jacquette und an Heinrich von Lübeck und sogar das an den
Vaganten Pierre de Grande-Rue verraten? Konnte ich, selbst wenn ich es
gewollt hätte, überhaupt noch so tun, als sei nichts geschehen?
Nein, ich war längst
viel zu tief in ein schreckliches Geheimnis verstrickt, das Menschen
verschlang wie ein Wesen der Hölle. Ich hatte den Begriff terra perioeci gelesen — einmal geschrieben
mit dem Blut des sterbenden Mönches und ein weiteres Mal auf der
ersten Seite des Buches von Castorius aus Ravenna. Beide Male war der berühmteste
Inquisitor von Paris Zeuge gewesen.
Hatte mich nicht ein
gesichtsloser Mönch eines Nachts im Kloster entdeckt, da ich
herumschlich, während sich einige Mitbrüder heimlich trafen?
Mitbrüder, zu denen eben jener
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