In Nomine Mortis
zumindest behauptet mein
Vater — und er sollte es wissen: Das Sammeln von Büchern über
Geografie, über ferne Länder und fremde Menschen ist nämlich
seine Leidenschaft. Fast alle Werke, die Ihr hier seht, handeln von diesen
Dingen und im Laufe der Jahre habe ich sie alle studiert. Ich gestehe
— doch ich hoffe, dass das in Euren Augen keine Sünde ist,
Bruder Ranulf —, dass ich Werke über ferne Länder fast
lieber lese als den Talmud. Und niemand ist mir dabei so lieb wie
Ptolemaeus. Seht her.«
Sie hatte den Band auf einem
Lesepult abgelegt und aufgeschlagen. Ich trat näher, bis ich direkt
neben ihr stand.
»Seht Ihr?«,
fragte sie mich und deutete auf die Seiten. Das Pergament war gelb, aber
nicht brüchig. Die Linien, die ich erblickte, waren fein. Doch erst
nach einiger Zeit entwirrte sich meinen Augen das Bild: Es war eine
Landkarte, hineingezeichnet in den Text: Inseln sah ich und ein Meer, in
dessen Wogen Wale, Oktopusse und anderen schauderhafte Wesen schwammen.
»Glückliche Inseln«
las ich die Beschriftung, die in feiner, sauberer Handschrift neben den
Eilanden stand. Es war Griechisch.
Die junge Jüdin lächelte.
»Ein schöner Name, nicht wahr? Nein, kein Name mehr,«
korrigierte sie sich rasch, »sondern ein Lockruf.« Sie duftete
ganz zart nach Rosenwasser und ich Sünder stand so nah bei ihr, dass
ich vermeinte, die Wärme ihrer Haut zu spüren. »Wo liegen
diese Inseln?«, fragte ich närrisch - nur um einen Vorwand zu
haben, auf den Folianten zu starren und an Leas Seite stehen bleiben zu dürfen.
Sie deutete hinaus aus dem
Fenster. »Irgendwo dort draußen im Meer, jenseits der Küsten
von Spanien. Jedenfalls steht es so bei Ptolemaeus. Seht her: Hier ist die
iberische Küstenlinie, da sind die Glücklichen Inseln. Und
dahinter…« Ihre Stimme verklang. »Finis mundi«, vollendete ich. »Dahinter
ist nur noch der Ozean, der bis zum Ende der Weltenscheibe reicht. Dahin
wird mich, so hoffe ich, mein Orden wohl nicht schicken.«
Die junge Jüdin lächelte
mich an, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Dann jedoch wurde sie
unvermittelt ernst, klappte den Folianten zu und wandte sich zum Regal.
»Der einzige ferne Ort, den ich wohl je in meinem Leben sehen werde,
wird Orleans sein«, flüsterte sie.
»Orleans?«,
fragte ich und atmete dabei tief ein, um noch den letzten Rest ihres
Rosenduftes in mich aufzusaugen, denn ich wagte es selbstverständlich
nicht, ihr zu folgen, sondern war am Lesepult stehengeblieben.
»Mein Vater und meine
Stiefmutter wollen, dass ich im Herbst, wenn mein Jahr Witwentrauer zu
Ende geht, Moses ben Joseph heirate«, sagte Lea. »Er ist der
reichste Geldwechsler von Orleans.« Mir war, als hätte sie mir
eine Ohrfeige gegeben. Ich musste mich ans Lesepult klammern, um nicht zu
wanken.
»Fühlt Ihr Euch
unwohl, Bruder Ranulf?«, fragte Lea besorgt. »Soll ich Euch
Wasser kommen lassen?«
»Nein, nein«,
wehrte ich ab, beschämt darüber, dass ich mich schon zum zweiten
Mal an jenem Tag so gehen ließ, dass ich die Aufmerksamkeit meiner
Mitmenschen erregte und dass mich Meister Philippe so sehen könnte
— das wäre das Letzte gewesen, was mir in jenem Moment behagt hätte.
»Wir sind nur schon
seit Stunden auf den Beinen«, versuchte ich eine Erklärung.
»Warum seid Ihr
eigentlich hier, Bruder Ranulf? Ihr und der gefürchtetste Inquisitor
von Paris. Was sucht Ihr bei meinem Vater?« Alle Freundlichkeit war
plötzlich wieder aus Leas Zügen und aus ihrer Stimme gewichen.
Ich schluckte. Sollte ich ihr
die Wahrheit sagen? Durfte ich dies überhaupt - oder wäre dies
erneut ein Bruch des Vertrauens gegenüber Meister Philippe gewesen?
Dann sagte ich mir allerdings, dass Nechen- ja ben Isaak, kaum, dass wir
dieses Haus verlassen würden, mit seiner Tochter über uns
sprechen und sie deshalb sowieso alles erfahren würde.
Also entschloss ich mich, Lea
die Wahrheit zu sagen. Und je länger ich sprach, desto leichter wurde
mir ums Herz. Ich erzählte ihr vom toten Heinrich von Lübeck -
und wie ich, der ich doch gerade erst in Paris eingetroffen war, dank der
Vorsehung unseres HERRN zum Inquisitor geworden war. Ich berichtete, wie
wir Jacquette gefunden und wieder verloren hatten, vom Reeder Richard
Helmstede und vom Domherrn Nicolas d'Orgemont - auch wenn ich dessen Sünden
nicht beschrieb. Meine nächtliche Verfolgungsjagd durch
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