In Santiago sehen wir uns wieder
heute Nacht, er könnte mich erschrecken; Gewalt, Sex, Missbrauch.
Aber der Weg, den ich gehe, ist ein Weg der Heilung, das weiß ich gewiss, warum sonst würde ich ihn gehen? Artieda. Meine Stiefel sagen Halt, nimm eine Dusche und ruhe aus. Als ich aufwache, steht einer aus Heidelberg vor meinem Bett, und ich beschließe, meine Route zu ändern.
Artieda - Undués de Lerda
Mittwoch, 18. Juni
Heute wandern wir also zu zweit weiter. Hinter Ruesta windet sich die Piste eine endlos lange Steigung hoch. Das Gewicht meines Hauses, die Hitze - hätte ich den Willen weiterzugehen, wenn ich alleine wäre? Meine Füße sind blind. Eingesperrt in hartes Schuhzeug, tun sie ihren Dienst. Der Befehl weiterzugehen kommt von oben, von dort, wo meine Wachheit zu Hause ist. Ein Wille im Kontrollturm befiehlt, und sie gehen dahin, wo das immerundendliche Grün der Bergrücken an das Blau des Himmels grenzt. Was nährt den Willen? Ein Bild, eine Sehnsucht in den Stockwerken, wo das Herz pocht. Eine Kraft steigt hinauf und meldet dem Willen: »Geh!« Und Boten steigen hinab in die Füße, die Füße heben sich, senken sich, stemmen sich gegen den Weg. Die Muskeln und Sehnen, der ganze Körper folgt diesem Stampfen, Drücken und Schieben. Der Kontrollturm meldet: »Gut, weiter so!«
Meine innere Stimme sagt: Wolltest du wirklich nach Santiago de Compostela? Das ist nur der Anfang. Ediths Wunderhappen wirken Wunder. Ja, und der Weg ist schon längst oben angekommen, er steht zwischen den Wänden aus Holzstämmen, freut sich und winkt: Da seid ihr ja.
Stille, Einsamkeit, ein paar Holzfäller, unter uns der Stausee von Yesa, ein Bergrücken mit Windrädern. Unvorstellbar, dass sich vor Jahrhunderten hier Mauren und Christen bis aufs Blut bekämpften.
Rast im Schatten, die nackten Füße ins Blau gestreckt. Unendliches Wohlgefühl erfüllt mich, Freude, im Körper verankert zu sein. »Was würdest du von einer dicken fetten Schwarzwälder Kirschtorte halten?«, fragt Alexander aus dem Hintergrund. - »Alles!« Ich sehe mich voller Lust in einer dicken fetten Sahnedamenklatschrunde sitzen und fühle mich noch wohler.
Undués de Lerda - Kloster Leyre – Sangüesa
Donnerstag, 19. Juni
Es ist früh, klar und wolkenlos, als wir Undués de Lerda verlassen. Schweigend gehen wir ins Tal hinab. Meine Gedanken vagabundieren und plötzlich finden sie ein Bild. Sie ziehen es hoch wie den Korken aus einer Flasche. Heraus strömt ein tiefer Schmerz. Er pflanzt sich fort bis in die Herzgegend. Ich gehe und versuche, ihn zu lassen. Javier, die Burg der Jesuiten, weist uns ab mit ihrer berechneten Kälte. Kaffee in einer Bar. Der Schmerz löst sich auf in Tränen... ich ziehe die Fotos meiner Lieben aus der Tasche. Und weiter wandern wir. Yesa und der Glutaufstieg zum Kloster Leyre. Lange ruhen wir aus, Geier in den Felsen über uns, der türkisblau schimmernde Stausee unter uns. Kloster, Hotel und Kirche stehen in Vorbereitungen für den Besuch des Kronprinzen, der am nächsten Tag den Navarra-Preis an einen Künstler verleihen wird. Die Mönche sind völlig überlastet, also wird es keine Vesper geben, keine Laudes und keine Nachtruhe für müde Pilger im Kloster. Lange sitze ich in der Kirche. Durch den wunderbaren Frieden hindurch meldet sich hartnäckig eine Stimme: Du bist nicht gewollt, Pilger unerwünscht. Überhaupt sind die Kirchen meist geschlossen, wo also Andacht halten, wo Kraft tanken für die Anstrengungen des Wegs? Trauer erfüllt mich, ich fühle mich vertrieben aus dem Reich, in dem ich zu Hause bin. Vielleicht muss es so sein, warum sonst machen wir uns auf den Weg, unseren eigenen? Aber wie kommen wir zur nächsten Herberge? Weitergehen ist unmöglich. Da höre ich französische Laute in der Krypta. »Kein Problem, wo wollen Sie hin, Sangüesa?« Kurze Zeit später trinken wir zusammen ein kühles Bier in Sangüesa und unterhalten uns angeregt. »Bei uns in Paris ist immer ein Zimmer frei«, sagen sie zum Abschied.
Hektik, schnell das Bett vorbereiten, schnell essen, schnell in die Kirche St. Maria Real zur Pilgermesse. Auch sie eilt. Dann das Rosenkranz-Gebet in der Santiago-Kirche. Der Singsang des Pfarrers im Wechsel mit den Stimmen der Gläubigen - es entsteht ein rhythmisches Wogen, Fließen und Strömen. In die Hast dieses Abends zieht Friede ein. Mauersegler pfeifen über die Dächer, Störche klappern von den Zinnen der Türme. Paläste, eingezwängt in enge Gassen, künden von einer erloschenen
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