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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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der Vögel zu Musik zu verweben. Es gelingt. Ich lege meine Matte aus, die Füße nach oben. Das ist nun mein Weg, Alltag auf Wochen - Glücksgefühl. Plötzlich kommt das Bild von gestern hoch, der Schmerz von anno dazumal, um Vielfaches verstärkt. »Tröste Mama«, und es gibt keine Mauern, keine Wälle, die diese Wasser halten könnten. Einen Anker in der Gegenwart finden. Also sortiere ich den Inhalt meines Rucksacks neu. Schlafzimmer und Waschküche, Badezimmer, Kleiderschrank und Vorratskammer, und schließlich das Büro! Eine Spinne sieht sich gemütlich in der Werkstatt um, der Himmel ist blau-grau-unentschieden. Jetzt scharren die Pferde im Stall, und als ich mein Gehäuse an mir festschnalle, bin ich von wandernden Farbtupfern und Duschgelnoten umringt. Die kehlig schnatternden Klänge einer fremden Sprache verleibe ich meinem mittäglichen Klangteppich ein. Dann lasse ich mich von den anderen ziehen und treiben, und so geht es heiter den Berg hinab - bis ein stechender Schmerz mich niederzwingt. Aida I. tritt auf, die erste Blase am zweiten Zeh rechts. Mal sehen, was meine Ausrüstung so leistet. In Castiello de Jaca schließlich ist meine Kapazität erschöpft. Zwei Minuten am Straßenrand, ein junges Paar nimmt mich nach Jaca mit. Ich gehe durch die Kathedrale, schlendere über den Platz... ein Auto hupt, die junge Frau von vorhin reicht mir meine Trinkflasche heraus. Schnell finde ich die Pilgerherberge. Ich lege den Pilgerpass, das Credential, vor und erhalte mit dem ersten Stempel ein erstes Pilgerbett auf meiner Pilgerreise.
    Jaca. Die Pilgermesse in der Kathedrale. Dieser eine Satz, wenn ich ihn doch dem Pater im Beichtstuhl vor die Füße legen könnte - da nimm. Stattdessen breitet sich Schwere in der Herzgegend aus. Wunderbar weiche Orgelklänge und golden barocker Zierrat durchbrechen die Strenge der romanischen Kirche. Kinder schreien, ich verstehe kein Wort.
     

Jaca - Santa Cilia de Jaca
    Sonntag, 15. Juni
     
    Wider jegliche Vernunft sitze ich am Fluss Aragón. Meine Mitpilger sind schon über alle Berge. Der Mann aus München wollte heute vierzig Kilometer, die Frau aus Österreich elf Stunden schaffen. Aber ich, ich sitze am Fluss und lausche seinem Lied. In meinem Rücken der Camino und die Hitze, die lauert und warnt.
    Jaca. Die erste Nacht in einer Pilgerherberge. Ich kann nicht schlafen. Die Hitze im Raum, die Düfte aus der Ecke meines Mitpilgers und die Helligkeit der Straßenlaternen. Was ohropaxgefiltert in meine Ohren dringt, die Stimmen aus den Bars, ein Polizeiauto, die Müllabfuhr - ich flechte alles in meine Unvollendete von heute mittag ein. Dann musste ich die Reste von meiner letzten Nähaktion aufräumen. Irgend jemand hat Stecknadeln verschüttet. Sie liegen über den ganzen Berghang verstreut und werden immer mehr. Die älteste Schwester entschuldigt mich bei meinem Gesangslehrer, ich würde wegen des Aufräumens später kommen. »Sie ist zornig, deine Schwester«, sagt er zu ihr, »ich kenne niemanden, der zorniger ist als sie.« Mit dem Aufsammeln der Stecknadeln ist kein Fertigwerden. Da finde ich mein kleines Porzellanpüppchen in seiner Korbwiege - und wache auf.
    Ich sitze am Aragon. Von rechts pirscht er sich heran, lautlos glitzernd teilt er sich in zwei Arme, rauscht an mir vorbei. Es gibt kein Ende, keine Pause in diesem Fließen und Drängen. Ein Tropfen folgt dem anderen, unaufhörlich und endlos. Wasser plätschert über die Steine, gleitet flach durch das Bett, fließt weiter und war doch immer schon da. Was zieht diesen Strom mit solcher Kraft? Was zieht mich in eine ferne Stadt, von der ich kaum mehr als den Namen kenne? Das Bild eines Heiligen, eine Geschichte, eine Legende, erfunden, wer weiß, ein Strom von Menschen durch Zeiten hindurch, Jahrhunderte, Pilger, Tausende, Millionen und wieder Tausende. Und ich mittendrin.
    An der Theke eines Hotels mache ich Halt. Die Köstlichkeit eines Milchkaffees. Motorradrennen im Fernseher, fremde Laute... plötzlich fühle ich mich unterwegs, auf Reisen, in der Fremde. Ich bin glücklich, und als ich in die Gluthitze hinausgehe, sehe ich kleine Sternchen auf dem Boden im Gras. Gänseblümchen sind vom Himmel gefallen.
    Santa Cilia de Jaca. In der Herberge treffe ich Gonzales aus Madrid. »Zehn bis fünfzehn Kilometer, das reicht für den Anfang.« Er will noch weiter heute. »Wir sehen uns bestimmt noch öfters«, sage ich zum Abschied. »Das glaube ich auch, Bella, gute Reise, und: be careful!« Die Hostalera

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