In Santiago sehen wir uns wieder
bringt einen neuen Gast ins Haus, Speedy-Sabine aus Wien. Ja, in San Juan de la Peña ist sie inzwischen gewesen, furchtbar anstrengend sei der Aufstieg. »In vierzig Tagen will ich in Santiago sein, das heißt also jeden Tag« - schnell schaut sie in ihr Buch, zählt die Kilometer bis Ruesta - »also, hilft nichts, ich muss heute noch bis Puente la Reina de Jaca.« Hastig trinkt sie Wasser aus den Händen - und weg ist sie. Die Hostalera lacht und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn: »Die hat einen Vogel, eindeutig.« Dann macht sie mir vor, wie ein Pilger geht, »langsam vor allem, er schaut sich um, lauscht den Vögeln, unterhält sich mit anderen und freut sich am Leben.«
Santa Cilia de Jaca – Arrés
Montag, 16. Juni
Die Schafherde von gegenüber ist schon unterwegs, als ich loskomme. Der Himmel ist bedeckt und wieder nicht, es ist schwül. Gewitter sind angekündigt. Gehen auf der Nationalstraße. Der schnelle Wahnsinn jagt hinter mir her. Die Mischung aus Dreck und Abgasen schmeckt bitterstaubig. Wegwarten am Straßenrand, ihr Sternenblau mir zugewandt, dazwischen das Weiß der Margeriten. Dann haben die gelben Pfeile der Wegmarkierung ein Einsehen und führen mich von der Straße weg, hinunter auf einen samterdigen Pfad zwischen Kiefern und Schilfgras. Aus Steinen sind Türmchen gebaut, die daran erinnern, dass vor mir Pilger gingen und nach mir weitere folgen werden. Das Geräusch eines Kieswerks lässt sich mit keinem Kniff in die Partitur meiner Symphonie einfügen. So lasse ich es rechts liegen und wandere zwischen Buchsbaum, Thymian, Lavendel und Wacholder den Berghang hinauf. Ein Bussard zieht seine Kreise, unbeirrt von dem kleinen Vogel, der um ihn herumflattert.
Im Schatten einer Kiefer richte ich mich ein. Mit den Augen fahre ich die Konturen der Bergrücken nach, sanft-weich jenseits des Tals, dahinter zackig die Pyrenäen. Ich liege, mit dem Kopf nach unten, auf meinem roten Bett. Da kommt schon wieder ein Bild aus den Untergründen hoch. Die Tochter, ihr Söhnchen, ein Gefühl in der Nabelgegend... ich bin mit meiner Mutter im Gespräch, kurz nach meiner Geburt. Vanillepudding wäre jetzt gut.
Die Sonne klettert über die Kiefer, es wird heiß. Beim ersten Lied einer Zikade packe ich meine Sachen ein. Schon schleppt eine große Ameise einen Krümel von meiner Vesper in ihre Speisekammer, ein Falter wippt auf meinem Knie. Schmetterlinge begleiten mich auf dem von gelben Blüten gesäumten Weg. Weiter geht es, im Hintergrund rumpelt es. Ein Gewitter? Wenige Minuten, und ich biege um eine Bergkante: Vor mir liegt ein halbzerfallenes Dorf, Arrés. An der Tür der Herberge klebt ein Zettel: »Wir sind in der Stadt und kommen bald zurück. Die Tür ist offen.« Ich bin willkommen.
Nach dem Duschen entdecke ich: Aida I. hat ihre Position verändert und ein Brüderchen bekommen, Belmondo II. am zweiten Zeh links. Es ist furchtbar heiß im Schlafraum, und die tausend von der spanischen Liga noch unvergifteten Fliegen verhindern das Einschlafen. Schließlich spanne ich mein Moskitonetz auf. »Reliquias de Santa Peregrina Martyra«, schreit Antonia vom Nachbarbett und lacht sich halbtot, ich lache mit, das Zwerchfell bebt - und plötzlich sind wir eingeschlafen.
Arrés –Artieda
Dienstag, 17. Juni
Um 6 Uhr stehen alle auf. Eine Stunde später gehe ich los, voller Kraft und Energie. Eingehüllt in den Gesang der Lerchen, begleitet von einem Schwarm von Schmetterlingen, fliege ich über Steine, Sand, blaugrüne Kleeblütenbüschel, Wegwarten. Manchmal kreuzt eine Libelle.
Wie ich so gehe, wird mir eine Eigenschaft bewusst, die mir sehr unangenehm ist. Doch jetzt sei sie mir willkommen. Ich setze sie auf einen Stuhl in den Garten meiner Persönlichkeit - und wandere weiter. Ich gehe und gehe und liebe das Gehen. Wieder machen sich meine Gedanken selbständig. Die Bilder meiner Liebsten tauchen auf, Namen, Sätze, Gesten, Situationen. Ich versuche, sie in Jahreszahlen zu packen und in mein Poesiealbum zu kleben. Alle dürfen sie hinein, jeder bekommt eine eigene Seite. Mit diesem buntscheckigen Poesiealbum ziehe ich am Rande des Tals entlang. Und ich gehe und gehe... Der Schmerz, der nach so langen Jahren aus dem Album quillt - ich nehme ihn an die Brust und wiege ihn in meinen Armen. Die Jahre einer Frau, sie währen dreißig Jahre, vierzig, wann beginnen sie, wann enden sie? Ich weiß es nicht, heute gehe ich und ziehe meinen Schatten hinter mir her. Ach ja, der Traum von
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