In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
nicht am nächsten Tag die Prüfung gehabt hätte, wären wir wohl zu ihm gegangen. Oder vielleicht, das Haus war ja leer, wäre er auch hier, bei mir geblieben. Aber es sollte nicht sein. Das Abendessen war Marcs Pause vom Lernen gewesen. Danach hat er mich hier vorbeigebracht und ist
wieder in die Bibliothek gegangen. Ich musste auch noch ein paar Dinge erledigen. Also habe ich meine Unterlagen genommen und habe mich hierhergesetzt - genau an diesen Küchentisch.«
Sie starrte auf den Tisch, als lägen die Unterlagen immer noch darauf.
»Ich hatte mir eine Tasse Tee gemacht. Genau wie heute. Ich hatte mich an den Tisch gesetzt und wollte gerade anfangen, meinen Essay zu schreiben, als ich von oben ein Geräusch hörte. Und ich wusste ja, wie gesagt, dass niemand zu Hause war. Eigentlich hätte ich doch Angst haben müssen, oder? Ich erinnere mich noch daran, wie ein Englisch-Professor in seinem Seminar fragte, welches das unheimlichste Geräusch der Welt sei. Ein Mann, der vor Schmerz heult? Der Angstschrei einer Frau? Ein Schuss? Ein weinendes Baby? Und dann schüttelte der Professor den Kopf und sagte: ›Nein, das unheimlichste Geräusch ist, wenn man sich allein in einem dunklen Haus befindet, ganz genau weiß, dass sonst niemand zu Haus ist, die nächsten Menschen sind kilometerweit entfernt - und dann hört man plötzlich von oben die Toilettenspülung.‹«
Christa lächelte Wendy zu. Wendy versuchte, das Lächeln zu erwidern.
»Ich hatte jedenfalls keine Angst. Vielleicht hätte ich sie haben sollen. Noch so ein Was-wäre-wenn. Was wäre, wenn ich einfach die Campus-Polizei gerufen hätte? Tja, dann wäre alles ganz anders gekommen, stimmt’s? Ich hätte ein vollkommen anderes Leben geführt. Damals, in jener Nacht, war ich mit dem wunderbarsten und attraktivsten Mann verlobt. Er ist jetzt mit einer anderen verheiratet. Sie haben drei Kinder. Sie sind sehr glücklich. Das hätte ich wohl sein können.«
Sie trank einen Schluck Tee, hielt den Becher dabei mit beiden Händen und ließ sich das Was-wäre-wenn noch einmal
durch den Kopf gehen. »Na, jedenfalls hatte ich dieses Geräusch gehört und ging in die Richtung. Ich hörte Leute flüstern und kichern. Tja, und da wusste ich auch, was los war. Studenten. Wenn ich überhaupt ein bisschen Angst gehabt hatte, war sie damit endgültig verflogen. Es waren nur ein paar Unruhestifter, die dem Dekan einen Streich spielten oder so etwas. Also ging ich die Treppe hinauf. Es war jetzt ganz ruhig. Die Stimmen vorher schienen aus dem Schlafzimmer des Dekans gekommen zu sein. Also ging ich hin. Ich trat ins Schlafzimmer und schaute mich um. Ich konnte nichts sehen. Ich wartete, dass meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Dann fragte ich mich, was machst du da? Schalt doch einfach das Licht ein. Also streckte ich die Hand zum Lichtschalter aus.«
Ihre Stimme zitterte, dann verstummte sie. Die roten Narben in Christa Stockwells Gesicht schienen noch dunkler zu werden. Wieder streckte Wendy die Hand aus, zog sie aber zurück, als sie sah, wie Christa sich verkrampfte.
»Ich wusste gar nicht, was dann passiert ist. Zumindest wusste ich es damals nicht. Inzwischen weiß ich es. Aber damals, in dem Moment, na ja, eigentlich habe ich nur einen lauten Knall gehört, und dann ist mein Gesicht explodiert. So fühlte es sich jedenfalls an. Als ob eine Bombe in meinem Gesicht explodiert wäre. Ich griff hin und spürte, dass lauter spitze Glassplitter in meinem Gesicht steckten. Dabei zerschnitt ich mir auch noch die Hände. Blut strömte aus den Wunden, lief mir in Mund und Nase, so dass ich keine Luft mehr bekam. In den ersten ein oder zwei Sekunden spürte ich keinen Schmerz. Aber dann kam er mit einem Schlag, und er war gewaltig, als ob man mir die Haut vom Gesicht abgezogen hätte. Ich schrie noch einmal auf und fiel zu Boden.«
Wendy spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie
hatte viele Fragen, wollte Details wissen, hielt sich dann aber zurück, damit Christa die Geschichte in Ruhe zu Ende erzählen konnte, so, wie sie es für angemessen hielt.
»Ich lag also schreiend auf dem Boden und hörte, wie jemand an mir vorbeirannte. Instinktiv streckte ich die Hand aus, und er stolperte darüber. Er fiel zu Boden und fluchte. Ich umklammerte sein Bein. Warum, weiß ich auch nicht. Es waren reine Reflexe, denken konnte ich da schon nicht mehr. Und dann wollte er sich befreien und hat nach mir getreten.« Nach einer kurzen Pause sprach sie ganz leise
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