In seiner Hand
für eine Antwort. »Das andere, was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass der Täter noch nicht gefasst ist. Vielleicht wartet er bloß darauf, dass ich mich hier herauswage und er mich wieder schnappen kann. Wenn ich daran denke, bekomme ich sofort Atemprobleme. Alles in meinem Körper scheint vor Angst zu erstarren. Ja. Ja, ich habe Angst. Allerdings nicht immer. Manchmal fühle ich mich auch wie ein richtiger Glückspilz und freue mich, noch am Leben zu sein. Trotzdem wünschte ich, sie würden ihn endlich erwischen. Ich glaube nicht, dass ich mich jemals wieder sicher fühlen werde, bis das nicht der Fall ist.«
In Irene Beddoes Gegenwart hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, über das sprechen zu können, was in jenem Raum mit mir passiert war und was ich dabei empfunden hatte. Sie war keine enge Freundin von mir. Ihr konnte ich von meinem Gefühl erzählen, mich selbst zu verlieren und Schritt für Schritt zu einem Tier degradiert zu werden oder zu einem Gegenstand. Ich erzählte ihr von seinem Lachen, seinem Flüstern, dem Kübel. Ich erzählte ihr, dass ich mit nassgepinkelter Hose aufgewacht war. Ich erzählte ihr auch, dass ich alles getan, alles über mich ergehen lassen hätte, um am Leben zu bleiben. Sie hörte schweigend zu, während ich redete und redete, bis meine Stimme müde wurde. Irgendwann hielt ich inne und lehnte mich zu ihr hinüber.
»Glauben Sie, Sie können mir helfen, mich an meine verlorenen Tage zu erinnern?«
»Mir geht es in erster Linie um das, was in Ihrem Kopf vor sich geht, was Sie durchmachen mussten und immer noch durchmachen. Wenn bei meiner Arbeit etwas herauskommt, das die polizeilichen Ermittlungen weiterbringt, dann ist das ein positiver Nebeneffekt. Die Beamten von der Polizei tun alles, was in ihrer Macht steht, Abbie.«
»Ich glaube nicht, dass ich ihnen viele Anhaltspunkte geben konnte.«
»Ihre Aufgabe ist es, wieder ganz gesund zu werden.«
Ich lehnte mich zurück und ließ den Blick die Fassade des Krankenhauses hinaufwandern. Aus dem ersten Stock blickte ein kleiner Junge mit hoher Stirn und ernstem Gesicht auf uns herunter. Von draußen drang Verkehrslärm zu uns herein, Motorengebrumm und Hupen.
»Wissen Sie, was einer meiner schlimmsten Alpträume ist?«, fragte ich sie.
»Was?«
»Ich habe zur Zeit viele Alpträume. Beispielsweise, wieder in jenem Raum zu sein. Es ist allerdings auch unerträglich für mich, hier in dieser Zwischenwelt zu leben, wo ich mir wie in einer Falle vorkomme. Manchmal aber habe ich die größte Angst davor, dass nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus – meiner Rückkehr in mein altes Leben – alles wieder seinen normalen Gang gehen und der Mann niemals gefasst werden wird. Dass die einzige bleibende Spur von ihm die Erinnerungsfetzen in meinem Kopf sein werden, die wie Würmer umherkriechen und mich von innen auffressen werden.«
Irene musterte mich aufmerksam.
»Haben Sie Ihr altes Leben nicht gemocht?«, fragte sie mich.
»Ist Ihnen der Gedanke, in dieses Leben zurückzukehren, unangenehm?«
»So habe ich das nicht gemeint«, entgegnete ich. »Ich kann nur die Vorstellung nicht ertragen, dass bei der ganzen Sache unter Umständen nichts herauskommt. Und dass mich das den Rest meines Lebens verfolgen wird.
Wie bei den Menschen, die an dieser besonderen Form von Taubheit leiden, Sie wissen schon, eigentlich ist es gar keine Taubheit. Das Problem ist nicht die Stille, sondern ein Geräusch, das die Leute in den Ohren haben, das stets vorhanden ist, bis es sie irgendwann in den Wahnsinn treibt, so dass manche sich sogar umbringen, nur um dieses Geräusch nicht mehr hören zu müssen.«
»Würden Sie mir ein wenig über sich erzählen, Abbie?
Über Ihr Leben vor dieser ganzen Sache?«
Ich trank einen Schluck Kaffee. Erst war er zu heiß gewesen, nun war er zu kalt. »Wo soll ich anfangen? Ich bin fünfundzwanzig. Ähm …« Ich hielt inne, wusste nicht, wie ich fortfahren sollte.
»Wo arbeiten Sie?«
»Seit gut zwei Jahren schufte ich wie eine Irre für eine Firma, die Büros ausstattet.«
»Was genau machen Sie da?«
»Wenn ein Unternehmen ein neues Büro einrichtet, machen wir so viel oder so wenig, wie die Auftraggeber wollen. Manchmal kümmern wir uns nur um die richtige Tapete, manchmal um die gesamte Ausstattung, von den Stiften bis hin zum Computersystem.«
»Macht Ihnen das Spaß?«
»Eigentlich schon. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, auch in zehn Jahren noch dasselbe zu machen –
wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher