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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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genauer darüber nachdenke, glaube ich nicht einmal, dass ich in einem Jahr noch dabei sein werde. Ich bin in diesen Job irgendwie hineingestolpert und habe festgestellt, dass ich recht erfolgreich bin. Manchmal sitzen wir bloß herum und drehen Däumchen, aber wenn wir Termindruck haben, arbeiten wir oft bis zum Morgengrauen. Das ist es, wofür uns die Leute bezahlen.«
    »Und Sie haben einen Freund?«
    »Ja. Ich habe Terry durch meine Arbeit kennengelernt.
    So lernen sich die meisten Paare kennen, nicht wahr? Ich wüsste nicht, wo ich sonst jemanden kennenlernen sollte.
    Er ist Informatiker, und ich bin vor etwa einem Jahr bei ihm eingezogen.«
    Sie saß schweigend da und schien darauf zu warten, dass ich weitersprach, also tat ich ihr den Gefallen, zum einen, weil ich grundsätzlich zu viel rede, besonders, wenn sonst niemand spricht – und zum anderen, weil mir danach zumute war. Ich wollte endlich über ein paar Dinge reden, die ich nie zuvor in Worte gefasst hatte.
    »Ehrlich gesagt waren die letzten paar Wochen nicht gerade berauschend. In vieler Hinsicht waren sie sogar ziemlich übel. Ich habe zu viel gearbeitet, er auch – und wenn er zu viel arbeitet, dann trinkt er auch zu viel. Ich glaube nicht, dass er Alkoholiker ist, er trinkt einfach, um sich zu entspannen. Allerdings entspannt er sich nicht wirklich, jedenfalls nicht lange. Irgendwann wird er entweder weinerlich oder wütend.«
    »Wütend worüber?«
    »Schwer zu sagen. Alles. Das Leben. Mich. Er wird wütend auf mich, weil ich gerade da bin, glaube ich. Dann wird er, nun ja, er …« Ich hielt abrupt inne. Es fiel mir schwer weiterzusprechen.
    »Er wird gewalttätig?«, fragte Irene Beddoes.
    Ich hatte das Gefühl, einen Hang hinunterzurutschen, an dessen Fuß Dinge auf mich warteten, von denen ich noch nie jemandem richtig erzählt hatte.
    »Manchmal«, murmelte ich.
    »Schlägt er Sie?«
    »Ihm ist ein paarmal die Hand ausgerutscht, ja. Ich habe mich immer für die Sorte Frau gehalten, die sich bloß ein einziges Mal von einem Mann schlagen lässt. Hätten Sie mich vor ein paar Monaten gefragt, dann hätte ich Ihnen geantwortet, dass ich mich sofort umdrehen und gehen würde, wenn ein Mann auf die Idee käme, mich zu schlagen. Aber das habe ich nicht getan. Ich weiß selbst nicht, warum. Es tat ihm immer gleich so schrecklich Leid, und ich hatte wohl Mitleid mit ihm. Klingt das sehr dumm? Ich hatte das Gefühl, dass er da etwas tat, was ihn selbst mehr verletzte als mich. Wenn ich jetzt darüber spreche – ich habe im Grunde noch nie wirklich darüber gesprochen –, dann kommt es mir vor, als würde ich von einer anderen erzählen, nicht von mir selbst. Ich bin normalerweise nicht die Sorte Frau, die bei einem Mann bleibt, der sie schlecht behandelt. Ich bin – na ja, eher die Sorte Frau, die aus einem Keller entkommen ist und jetzt ihr Leben weiterleben möchte.«
    »Sie haben da ein richtiges Heldenstück geliefert«, meinte sie, und es klang herzlich.
    »So sehe ich das nicht. Wirklich nicht. Ich habe lediglich getan, was ich konnte.«
    »Das war offensichtlich ziemlich viel. Ich habe mich recht eingehend mit diesem Psychopathen beschäftigt …«
    »Das haben Sie mir noch gar nicht gesagt«, unterbrach ich sie. »Sie sagten doch, Sie wären Psychiaterin und würden sich für diese ganze Seite des Falls nicht interessieren.«
    »Sie haben in dieser Situation zunächst erstaunlich starke Nerven bewiesen, sich ausschließlich aufs Überleben konzentriert. Zudem ist Ihnen diese bemerkenswerte Flucht gelungen. Dafür gibt es kaum einen Präzedenzfall.«
    »Sie kennen nur meine Version. Vielleicht habe ich auch übertrieben, um noch heldenhafter dazustehen.«
    »Ich wüsste nicht, was es da zu übertreiben gäbe«, widersprach sie. »Schließlich sind Sie hier. Sie sind am Leben.«
    »Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Jedenfalls wissen Sie jetzt alles über mich.«
    »Das würde ich nicht sagen. Vielleicht können wir uns die nächsten ein, zwei Tage noch ein paarmal zusammensetzen.«
    »Das wäre schön«, antwortete ich.
    »Ich hole uns gleich etwas zu essen. Sie müssen am Verhungern sein. Doch vorher möchte ich Sie noch um einen Gefallen bitten.«
    »Um welchen?«
    Sie antwortete nicht gleich. Stattdessen begann sie in ihrer Umhängetasche zu kramen. Während ich ihr dabei zusah, schoss mir durch den Kopf, dass sie genau die Art Mutter war, die ich mir selbst ausgesucht hätte: warmherzig, wo meine Mutter kühl war, ruhig und

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