In seiner Hand
selbstsicher, wo meine Mutter zur Hysterie neigte, intelligent, wo meine Mutter, nun ja, nicht gerade Einstein war – alles in allem eine interessante Frau.
Schließlich zog sie eine Aktenmappe aus ihrer Tasche, legte sie auf den Tisch und nahm ein Blatt heraus, ein Formular, das sie vor mich hinlegte.
»Was ist das?«, fragte ich. »Wollen Sie mir eine Versicherung aufschwatzen?«
Sie blieb ernst. »Ich möchte Ihnen helfen«, antwortete sie.
»Und um Ihren Fall richtig beurteilen zu können, würde ich mir gern ein möglichst vollständiges Bild von Ihnen machen. Ich würde mir gern Einblick in Ihre sämtlichen bisherigen Krankenakten verschaffen, und dafür brauche ich Ihr Einverständnis. Sie müssten hier unterschreiben.«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte ich. »Meine Krankenakten?
Das sind doch nur Stapel von Aufzeichnungen über Impfungen vor irgendwelchen Urlauben und Antibiotika, wenn ich die Grippe hatte.«
»Es könnte trotzdem hilfreich sein«, entgegnete sie und reichte mir einen Stift.
Achselzuckend unterschrieb ich.
»Na, dann viel Spaß, ich beneide Sie nicht. Und jetzt, was tun wir jetzt?«
»Ich fände es schön, wenn wir uns noch etwas unterhalten würden«, antwortete sie. »Beziehungsweise, wenn Sie weiter erzählen würden. Fangen Sie doch einfach an, mal sehen, wo uns das hinführt. Aber vorher hole ich uns was zu essen.«
Nachdem sie mit Sandwiches, Salat, Mineralwasser, Tee und Keksen zurückgekehrt war, tat ich wie mir geheißen.
Ich ließ meinen Worten freien Lauf. Und während ich erzählte, wanderte die Sonne über den Himmel.
Manchmal, wenn ich an die bleierne Müdigkeit dachte, die während des ganzen letzten Jahres mein Leben geprägt hatte, weinte ich auch ein bisschen, doch meist redete ich, hörte gar nicht mehr auf zu erzählen, bis ich völlig erschöpft war, es im Garten bereits dunkel und kalt zu werden begann und Irene mich durch hallende Korridore zurück zu meinem Zimmer führte.
Auf meinem Bett lag ein großer Strauß Narzissen, daneben ein alter Briefumschlag mit einer Nachricht für mich: »Schade, dass du nicht da warst. Ich habe gewartet, solange es ging. Ich komme wieder, sobald ich Zeit habe.
Alles Liebe, ich denke an dich, Sadie.«
Ich musste mich aufs Bett setzen, weil mir vor lauter Enttäuschung die Beine den Dienst versagten.
»Wie kommen Sie mit Ihren Ermittlungen voran?«
»Wir haben zu wenig Anhaltspunkte, um richtig ermitteln zu können.«
»Was ist mit den anderen Frauen?«
»Wir haben nur fünf Vornamen.«
»Sechs. Wenn man mich mitzählt.«
»Wenn Sie …«
Cross hielt inne und senkte verlegen den Kopf.
»Wenn mir irgendetwas einfällt«, sagte ich, »werden Sie der Erste sein, der davon erfährt.«
»Dies ist Ihr Gehirn.«
»Mein Gehirn.« Ich starrte auf das Röntgenbild vor uns und berührte meine Schläfen. »Ein seltsames Gefühl, sich sein eigenes Gehirn anzusehen. Und, ist damit alles in Ordnung?«
Charlie Mulligan lächelte mich an.
»Wenn Sie mich fragen, sieht es ziemlich gut aus.«
»Vielleicht ein bisschen düster.«
»Es sieht genau so aus, wie es aussehen soll.«
»Trotzdem kann ich mich noch immer nicht erinnern. In meinem Leben klafft ein Loch.«
»Das wird vielleicht auch so bleiben.«
»Ein katastrophenförmiges Loch.«
»Oder die Erinnerung wird langsam zurückkehren und das Loch füllen.«
»Kann ich das irgendwie beeinflussen?«
»Denken Sie nicht ständig daran. Entspannen Sie sich.«
»Und das sagen ausgerechnet Sie mir.«
»Es gibt Schlimmeres, als ein paar Tage seines Lebens zu vergessen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Wie auch immer, ich muss los.«
»Zurück zu Ihren Mäusen.«
Ich griff nach seiner ausgestreckten Hand. Sein Händedruck war warm und fest. »Ja, zurück zu meinen Mäusen. Lassen Sie es mich wissen, falls Sie etwas brauchen.«
Falls ich etwas brauche, wobei Sie mir weiterhelfen können, dachte ich, nickte aber bloß und versuchte dabei zu lächeln.
»Ich habe gelesen, dass man sich im Leben nur zwei- oder dreimal richtig verliebt.«
»Glauben Sie, das stimmt?«, fragte Irene Beddoes.
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Was mich betrifft, so habe ich mich entweder überdurchschnittlich oft verliebt oder aber nie so richtig. Es beginnt ja in der Regel damit, dass man weder schlafen noch essen kann, sich ständig schwindelig und atemlos fühlt und nicht so recht weiß, ob man total glücklich oder total unglücklich ist. Man möchte einfach nur bei ihm sein, und der Rest der
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