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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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vergangen. Ach ja, und einen Globus.
    Während ich mit eingezogenem Kopf und roter Nase gegen den Wind ankämpfte, fühlte ich mich seltsam schwerelos, als wäre ich ohne die Dinge aus meinem früheren Leben plötzlich ohne Gewicht und Daseinsberechtigung, als könnte mich der Wind jeden Moment wie eine Feder davonwehen.
    Davon hatte ich geträumt: mit einer Weinflasche bewaffnet die winterliche Straße entlangzugehen, um eine liebe Freundin zu besuchen. Jetzt wandte ich immer wieder den Kopf, um festzustellen, wer neben oder hinter mir ging. Warum war mir früher nie aufgefallen, wie seltsam die meisten Leute aussahen, wenn sie bis unter die Nasenspitze in dicke Wintersachen gehüllt waren? Mit meinen alten Schuhen rutschte ich auf dem eisigen Boden immer wieder aus. Einmal hielt mir ein Mann, neben dem ich gerade die Straße überquerte, hilfsbereit die Hand hin, um mich zu stützen. Als ich vor Schreck den Arm zurückriss, starrte er mich erstaunt an.
    »Sei da, sei da, sei da«, murmelte ich vor mich hin, während ich vor Sadies Souterrain-Wohnung wartete, ob sie auf mein Klingeln reagieren würde. Ich hätte vorher anrufen sollen. Wenn sie ausgegangen oder weggefahren war, was dann? Normalerweise war sie um diese Tageszeit immer zu Hause. Pippa war erst sechs oder sieben Wochen alt, und Sadie noch ganz euphorisch vor Mutterglück. Sie nahm gerne in Kauf, dass die Kleine ihren Tagesablauf bestimmte. Ich drückte noch einmal auf den Klingelknopf.
    »Bin schon unterwegs!«, rief eine Stimme. Durch das geriffelte Glas sah ich sie näher kommen. »Wer ist da?«
    »Ich. Abbie.«
    »Abbie! Ich dachte, du wärst noch im Krankenhaus.
    Moment!«
    Ich hörte sie fluchend mit dem Vorhängeschloss hantieren, dann sprang die Tür auf, und sie stand mit Pippa auf dem Arm vor mir. Die Kleine war in dicke Handtücher gewickelt, so dass nur ein Teil ihres rosigen, immer noch leicht runzeligen Gesichts hervorlugte.
    »Ich habe sie gerade gebadet und …«, begann sie, brach dann aber mitten im Satz ab. »Lieber Himmel, wie siehst du denn aus!«
    »Ich hätte vorher anrufen sollen. Ich hatte bloß … du musst entschuldigen, aber ich hatte einfach das dringende Bedürfnis, dich zu sehen.«
    »Lieber Himmel!« sagte sie noch einmal, während sie zur Seite trat, um mich eintreten zu lassen.
    Ein süßsaurer Geruch schlug mir entgegen – nach Senf, Babypuder, Milch, Erbrochenem und Seife. Ich schloss die Augen und atmete tief ein.
    »Wie wundervoll«, sagte ich und wandte mich Pippa zu.
    »Hallo, Süße, erinnerst du dich an mich?«
    Pippa öffnete den Mund so weit, dass ich durch ihren rosigen Schlund bis zu ihren Mandeln hinuntersehen konnte. Dann stieß sie einen kurzen, hellen Schrei aus.
    »Nein?«, fragte ich. »Tja, das überrascht mich eigentlich nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich selbst an mich erinnere.«
    »Was um alles in der Welt ist mit dir passiert?« wollte Sadie wissen. Sie zog Pippa noch fester an sich und wiegte sie sanft hin und her, wie es anscheinend alle Mütter instinktiv taten.
    »Du siehst …«
    »Ich weiß. Ich sehe fürchterlich aus.« Ich stellte den Globus auf dem Küchentisch ab. »Der ist für Pippa.«
    »Was darf ich dir anbieten? Hier, setz dich. Schieb die Babysachen einfach zur Seite.«
    »Kann ich einen Keks oder ein Stück Brot haben? Ich fühle mich ein bisschen wackelig auf den Beinen.«
    »Natürlich. Mein Gott, was haben sie mit dir angestellt?«
    Pippa begann zu quengeln, und Sadie hievte sie ein Stück höher, bis sich der Kopf der Kleinen unter ihr Kinn schmiegte.
    »Schsch, ist ja gut«, flüsterte sie mit ihrer neuen Singsangstimme, die niemand von uns je zu hören bekommen hatte, bevor Pippa zur Welt kam. »Schon gut, mein kleines Schätzchen!«
    »Du musst dich um sie kümmern. Ich bin zu einem ungünstigen Zeitpunkt hereingeplatzt.«

    »Sie hat Hunger.«
    »Lass dich nicht stören. Ich kann warten.«
    »Bist du sicher? Du weißt ja, wo alles ist. Magst du uns Tee machen? Kekse sind auch noch ein paar da, glaube ich. Schau einfach, was du findest.«
    »Ich habe eine Flasche Wein mitgebracht.«
    »Ich stille noch, da sollte ich eigentlich nichts trinken.«
    »Ein Gläschen geht schon, den Rest vernichte ich.«
    »Ich ziehe sie schnell an, stillen kann ich sie dann hier.
    Ich möchte alles ganz genau wissen. Mein Gott, bist du dünn! Wie viel hast du denn abgenommen?«
    »Sadie?«
    »Ja?« Sie wandte sich im Türrahmen um.
    »Kann ich bleiben?«
    »Bleiben?«
    »Nicht

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