In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
zum Friseur zu gehen.
»Oh«, sagte Mike und musterte die alte Frau mit Kennerblick, »anderthalb Stunden etwa, würde ich schätzen. Aber so ganz genau kann man das nie sagen. Manche kleinen Personen sind erstaunlich zäh.« Ruth Seemann kicherte mädchenhaft und warf dem Kremierer einen koketten Blick zu.
»Und was passiert mit meiner Kunsthüfte? Kommt die mit in die Urne?« Elisabeth Hartmann, hochgewachsen und dürr, klopfte sich auf die Seite. In ihrem sonnenblumengelben Hosenanzug erinnerte sie Theo an eine betagte Giraffe. »Tadelloses Fabrikat«, informierte sie den geduldig zuhörenden Kremierer. »Ist seit fünfzehn Jahren drin und macht keine Mucken.«
»Nein. Metall kommt nicht mit in die Urne. Das wird vorher aussortiert. Geht ganz fix mit einem Magneten.«
»O bitte, können wir da nachher zuschauen?«, fragte Ruth. Ihre Apfelbäckchen röteten sich.
»Zutritt nur für Angestellte.« Adler zuckte bedauernd die Schultern.
»Schaut mal, da kommt unser schmucker Bestatter«, rief Annegret Reese, die ihren üppigen Körper in eine Art bunten Kaftan gehüllt hatte.
Theo reichte ihr die Hand. »Meine Damen.«
»Niedlich, oder?« Annegret hielt seine Hand fest.
»Lass ihn los, Annegret.« Ruth knuffte ihre Freundin mit ihrem Stock.
»Sie sehen alle sehr elegant aus«, lobte er.
»Immer nur das triste Schwarz auf den Beerdigungen, das mögen wir nicht. Lola hat immer gesagt: Mädels, macht euch richtig schick für meine letzte Reise.« Elisabeth zog ein Taschentuch aus ihrem farblich passenden Handtäschchen und schnäuzte sich die Nase.
»Er schmeichelt uns, damit wir nicht zur Konkurrenz gehen.« Ruth kicherte in sich hinein.
Theo lachte.
»Kommen Sie, Herzchen, lassen wir Lola nicht zu lange warten.« Annegret hängte sich bei ihm ein und sie betraten gemeinsam den Kremierungssaal, in dem der Sarg wartete. Er war schneeweiß lackiert und mit dunkelroten Rosen geschmückt. Lola Menck hatte alles ganz genau aufgeschrieben – Schmuck, Todesanzeige, Einladungen zur Beisetzung, Musik – und bei ihm hinterlegt. Auch die anfallenden Kosten hatte sie bereits beglichen. »Ich will nicht, dass meine Erben an meiner Beerdigung knausern«, hatte sie ein halbes Jahr vor ihrem Tod gesagt.
Elisabeth übernahm es, eine kleine Rede zu halten. Sie wandte sich nicht an die Anwesenden, sondern an die verstorbene Freundin im Sarg. Offenbar hatten sich alle vier bereits als junge Mädchen gekannt, hatten gemeinsam den Krieg überstanden, ihre Kinder miteinander spielen lassen und sich beigestanden, als die Männer einer nach dem anderen gestorben waren. »Wir haben Glück gehabt, dich so viele Jahre zu kennen«, sagte Elisabeth zum Schluss. »Nun bist du die Erste von uns, die sich aufgemacht hat auf die große Reise. Aber du hattest von uns allen ja immer schon die Nase vorn.« Die anderen beiden nickten und lächelten gerührt.
Auf einen Wink von Elisabeth schaltete Theo den CD-Player an. »Für mich soll’s rote Rosen regnen«, sang die sehnsuchtsvolle Stimme von Hildegard Knef. Als der letzte Ton verklungen war, öffneten sich die Türen des Brennofens und der Sarg glitt lautlos in das lodernde Feuer. Der Blumenschmuck verglühte prasselnd. Dann schlossen sich die Türen wieder.
Ein schöner Abschied, dachte Theo, als er seinen Citroën wieder nach Hause steuerte. Ganz anders als das einsame Begräbnis von Reinhold und die steife Totenfeier, die er vor ein paar Tagen für Sebastian abgehalten hatte. Etwas Unheilvolles hatte in der Luft gelegen. Und es hatte seine Wurzeln in der Vergangenheit. Da war Theo ganz sicher.
Damals
Das Mädchen kämpfte sich durch den böigen Wind voran. Regen peitschte ihr ins Gesicht. Als der 155er-Bus an ihr vorbeifuhr, sah sie ihm sehnsüchtig hinterher. Am Vortag hatte ihr Fahrrad einen Platten gehabt, und in der Hoffnung, heute mit dem Bus zur Schule fahren zu dürfen, hatte sie ihrem Vater nichts davon gesagt.
Aber der hatte sie beim Frühstück nur streng angesehen und gesagt: »Na, dann wirst du wohl zu Fuß gehen müssen.«
Sie hatte schwer geseufzt und trübsinnig auf ihren Teller mit der dünnen Scheibe Brot gestarrt.
»Wir waren uns doch einig, du brauchst ein bisschen mehr Bewegung.« Du musst abnehmen, sollte das heißen. Alle waren sie schlank in ihrer Familie: Ihre bildhübsche Mutter, die Sport verabscheute, deftiges Essen liebte und trotzdem kein Gramm zulegte. Ihre vier Jahre jüngere Schwester Carlotta, die dünn wie ein Strich war und dabei Unmengen
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