In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
sich am Kopf. »Mist. Das ist so lange her. Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern.«
Hanna kaute auf ihrer Unterlippe. »Hast du keine alten Fotos aus deiner Schulzeit?«
»Na klar.«
»Herholen!«
Als Theo sein ehemaliges Elternhaus übernommen hatte, hatten er und seine Frau es komplett umgebaut. Sie ließen das alte, reetgedeckte Klinkergebäude ganz entkernen und modern ausbauen. Sogar die Decke zwischen den zwei Geschossen wurde teilweise entfernt, sodass an dieser Stelle ein hoher Raum entstanden war. Nur die alten Holzböden und die Deckenbalken erinnerten im Inneren noch an die Vergangenheit. Das Untergeschoss bestand fast durchgängig aus einem einzigen großen Bereich, in dem sich auch die Küche befand. Im ersten Stock lagen das Schlafzimmer, ein großzügiges Bad sowie der Raum, der eigentlich das Kinderzimmer hätte werden sollen. Jetzt diente er als eine Art Abstellkammer.
Theo betrat diesen Raum nur selten. Nach dem Tod von Nadeshda und dem Kind hatte er die bereits angeschafften Kinderzimmermöbel zwar verschenkt. Doch der zartgelbe Anstrich und die eine Wand, die Nadeshda eigenhändig mit einer Unterwasserszene bemalt hatte, erinnerten noch immer an seine eigentliche Bestimmung. Sie war eine begabte Illustratorin gewesen und hatte in die Gestaltung des Raumes viel Liebe gesteckt. Und so tummelten sich dort noch immer bunte Fische. Ein neugieriger Tintenfisch lugte zwischen Korallen und Seegras hervor, den sandigen Boden bevölkerten Krabben, Seesterne und Muscheln. Theo brachte es nicht übers Herz, die fröhliche Unterwasserwelt zu überstreichen, um seine Erinnerungen auszulöschen. Er wollte es auch gar nicht.
In dem Zimmer war es stickig. Staubflocken wirbelten auf, als er es betrat. Er durchquerte den Raum und öffnete ein Fenster. Unten im Garten konnte er Hanna sehen, die entspannt in ihren Liegestuhl ruhte. Dann drehte er sich um und blickte suchend umher. In dem Zimmer stapelten sich etwa zwanzig Kartons. In den meisten waren Nadeshdas Malutensilien und ihre Werke sorgfältig verstaut, Originale von Illustrationen, die sie für Zeitschriften oder Werbeanzeigen gemacht hatte. Und erste Zeichnungen für ein Kinderbuch, ein Traumprojekt, das sie nicht mehr hatte verwirklichen können.
Welche Kartons ihm selbst gehörten, war leicht zu erkennen: Sie waren wesentlich älter und angestoßen. Einer von ihnen hatte den vor zwanzig Jahren gekauften Fernseher seines Vaters beherbergt, ein anderer Theos ersten Computer. Schon im zweiten Karton fand er, was er suchte: ein Sammelsurium von alten Schulbüchern und Heften sowie zwei Schuhschachteln voller Fotos. Er griff sie, schloss den Karton und verließ das Zimmer. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, warf er noch einen Blick über die Schulter zurück. Der Krake winkte ihm freundlich zu.
Hanna nahm ihm eine der Schachteln ab und förderte eine Handvoll Fotos zutage. Anders als die Mädchen in seiner Klasse, die die Bilder hübsch in Alben eingeklebt und beschriftet hatten, hatte Theo einfach alles in Schuhkartons gesteckt. Und so fand sich darin nun ein buntes Panoptikum der Erinnerungen: Schnappschüsse seines ersten Urlaubs ohne Eltern – einer verregneten Fahrradtour durch Schleswig-Holstein – einer Klassenreise zum Skifahren in den Bayerischen Wald. Geburtstage und Partys. Sein abenteuerlicher Trip quer durch Spanien mit seinem altersschwachen ersten Auto – einer rostigen Ente. Und zahlreiche Porträts von Mädchen, die er geküsst und wieder vergessen hatte. Dazwischen Urlaubspostkarten, Eintrittskarten für Konzerte und ein paar Briefe.
Hanna griff sich einen Stapel. »Süß«, sagte sie und hob das Bild eines etwa fünfzehnjährigen Theos in die Höhe. Er trug damals die Haare lang und hielt eine Gitarre in der Hand. »Aus dir hätte glatt ein zweiter Curt Cobain werden können.«
Theo lachte. »Bestimmt nicht, ich bin musikalisch komplett unterbelichtet.«
»Die schau ich mir ein andermal in Ruhe an.« Bedauernd legte Hanna die Bilder, auf denen Theo allein zu sehen war, beiseite und konzentrierte sich auf die Fotos, die offensichtlich in der Schule aufgenommen worden waren.
Sie zog ein großformatigeres Bild hervor, auf dem eine Klasse abgebildet war. Theo hockte sich neben sie und deutete mit dem Finger auf ein junges hochgewachsenes Mädchen. »Das hier ist Nathalie.«
»Hübsch.«
»Das hübsche Biest. Und hier haben wir Sebastian und Reinhold.« Während Reinhold eine Grimasse in die Kamera schnitt, hatte
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