In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Theos altem Citroën.
»Und jetzt?« Hanna kramte in ihrer Handtasche und fischte die Zigaretten heraus.
Theo zuckte mit den Schultern.
Sie pellte die Folie von der Schachtel und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Bevor sie sie anzündete, strich sie sich eine Locke hinters Ohr. Obwohl Theo selbst nie geraucht hatte und den Geruch von Tabakqualm nicht besonders schätzte, hatte er die mit dem Rauchen verbundenen Gesten immer gemocht. Die alten Filme, die er so liebte, wären ohne die Erotik des blauen Dunstes nicht dieselben gewesen. Audrey Hepburn kokett mit Zigarettenspitze in »Frühstück bei Tiffany«. Die unfassbar schöne Lauren Bacall an der Seite von Humphrey Bogart – ohne Zigarette? Undenkbar. Und jetzt eben Hanna … Er legte ihr eine Hand um den Nacken und küsste sie.
Sie lachte und machte sich los. Dann wurde sie ernst. »Diese Sanna, die muss doch noch mit irgendjemand anderem Kontakt gehabt haben.«
Theo stellte sich das Klassenfoto vor, ein Gesicht nach dem anderen. »Benno«, sagte er dann.
KAPITEL 18
Henry stoppte den Wagen an der Schranke, die den Einfahrtsbereich des Deutschen Elektronensynchrotron DESY markierte. Der Schlagbaum ragte wie ein Fahnenmast senkrecht in die flimmernde Luft. Die Fahrt nach Bahrenfeld hatte nur gut zwanzig Minuten gedauert. Unterdessen hatte Hadice Henry die Vita von Dr. Sylvia Kuhn vorgelesen, die sie noch im Präsidium ausgedruckt hatte. Sie war eindrucksvoll. Jetzt, wo sie das Foto der Wissenschaftlerin vor sich sah, konnte Hadice sich wieder ganz genau an sie erinnern. Ein spitzes Gesicht, umrahmt von glattem, mausbraunem Haar. Auf der Nase eine Hornbrille, die gerade wieder topaktuell war. Hadice zweifelte, dass Sylvia sich aus modischen Gründen für das Modell entschieden hatte.
Sie ließ die Blätter auf den Schoß sinken und sah durch das Fenster in das sommerliche Hamburg. Es würde ihr schwerfallen, professionelle Distanz zu wahren. Sylvia war ihr schon in der Schule mit ihrer Besserwisserei auf die Nerven gegangen. Die Tatsache, dass Hadice durch das Handicap mit dem Fuß ohnehin gereizt war, würde es nicht einfacher machen.
»Am besten du übernimmst die Gesprächsführung«, sagte sie zu Henry.
Der warf ihr einen kurzen Blick zu. »Aber dich kennt sie doch.«
»Eben.«
Sie griff wieder nach den biografischen Eckdaten ihrer ehemaligen Mitschülerin.
»Ach nee!«, rief sie unvermittelt und bohrte triumphierend den Finger auf das Papier. »Bevor sie sich der Teilchenphysik verschrieben hat, hat sie Biologie studiert.«
»Na und?«
»Schwerpunkt Virologie.«
»Und Tollwut ist eine Virusinfektion.«
»Du sagst es.«
Henry stieg aus dem Wagen, reckte sich und ging hinüber zur Pförtnerloge. Ein älterer Pförtner fächelte sich mit einer Broschüre Luft zu.
Der Kommissar tippte sich grüßend an eine imaginäre Mütze. »Wir möchten zu Frau Dr. Sylvia Kuhn.«
Alfred Hermann, oder Einstein, wie er wegen seiner weißen Strubbelhaare von den Kollegen gerufen wurde, gab den Namen in den Computer ein. 1700 Beschäftigte und rund 2000 forschende Gäste aus aller Welt arbeiteten auf dem Gelände. Die hausinterne Namenssuche spuckte ein Ergebnis aus.
»Sind Sie angemeldet?«
Henry schüttelte den Kopf. »Ich denke aber, die Dame wird uns dennoch empfangen.« Er schob dem Pförtner seinen Kripoausweis zu.
Der hob die Brauen und griff zum Hörer. »Frau Dr. Kuhn? Hier sind zwei Herrschaften von der Kripo für Sie.« Er lauschte einen Moment. Dann nickte er Henry zu und griff nach einem DIN-A 3-großen Stück Papier, auf dem das DESY-Gelände abgebildet war. »Dr. Kuhn holt Sie in einer Viertelstunde am Teich in der Cafeteria ab.« Er markierte eines von zahlreichen würfelförmig dargestellten Gebäuden auf dem Plan.
Das Gelände war gigantisch. Über eine Fläche von siebenundvierzig Hektar verstreut lagen kastenförmige Gebäude aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Doch die sichtbaren Teile des Komplexes bildeten gleichsam nur die Spitze des Eisbergs. Die wahre Größe, das Herz der Anlage, befand sich unterhalb der Erdoberfläche: die Teilchenbeschleuniger. Der größte von ihnen, HERA, zog sich in einem Kreis von gut sechs Kilometern bis weit unter die angrenzenden Grundstücke. Über Jahre hinweg hatten die Wissenschaftler dort Elektronen und Protonen mit Magnetfeldern auf astronomische Geschwindigkeiten beschleunigt und aufeinanderprallen lassen. Inzwischen war die gigantische Anlage von der Technik überholt und
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