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In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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die Schäden kaschieren sollte, war halb heruntergerutscht. Der pustulöse Knabe kam um die Ecke gerannt, warf sich auf das Möbel und hüpfte darauf herum. »Carlito, geh ins Bett.« Franziska verdrehte die Augen. »Er ist eine totale Katastrophe.« Es klang liebevoll.
    »Aber überhaupt nicht, der ist bezaubernd«, sagte Hanna. Carlito probierte einen Kopfstand und kugelte zur Seite.
    »Seit es ihm wieder besser geht, ist er nicht zu bändigen. Aber er darf einfach noch nicht raus wegen der Ansteckungsgefahr.«
    »Kwantäne!«, brüllte Carlito.
    »Das geht jetzt schon seit einer Woche so. Die Leute im Büro finden das überhaupt nicht witzig, dass ich so lange ausfalle.« Sie umklammerte die mageren Knie mit den Händen. »Aber was soll ich machen? Raphael und ich haben uns vor drei Jahren getrennt.«
    Theo erinnerte sich vage an den gut aussehenden Spanier aus der Gesamtschule Wilhelmsburg, der auf allen Gymnasialpartys aufgetaucht war. Die Mädels waren hingerissen gewesen. Die Jungen weniger.
    »Ich nehme mal an, du bist nicht bloß auf einen Kaffee vorbeigekommen?« Franziska zupfte geistesabwesend an ihrem T-Shirt. Im Ausschnitt standen die Knochen ihrer Schlüsselbeine deutlich hervor.
    »Nein«, sagte Theo. »Ich suche Sanna. Hast du eine Ahnung, wo die abgeblieben ist?«
    »Nee, keine Ahnung. Wir waren ja mal so.« Sie überkreuzte die Finger. »Aber in der Zehnten haben wir irgendwie den Draht zueinander verloren. Sie hatte dann ja irgendwann nur noch dieses Ballettding im Kopf. Das war nicht so meins.«
    Damals
    Sanna schloss die Augen. Der lichtdurchflutete Raum der Ballettschule verschwand, was übrig blieb, war die Musik und die Stimme ihrer alten Lehrerin, die Anweisungen für die Exercise gab. Madame Nicols war eine winzige Person mit schneeweißem Pagenkopf, einem strahlenden Bühnenlächeln und einer aufrechten Haltung, die von einem Leben für den Tanz geprägt war. Nach ihrer Karriere in Paris hatte sie viele Jahre als Ballettmeisterin an der Oper in Kairo gearbeitet, ein Umstand, den Sanna ausgesprochen aufregend und exotisch fand. An den Wänden hingen Bilder, die Madame auf dem Höhepunkt ihrer Karriere zeigten: ein ätherisches und zugleich kraftvolles Zauberwesen.
    »Port de bras«, sagte Madame Nicols und Sanna hob ihre Arme in einem graziösen Bogen, eine Bewegung, die unendlich weich aussah, bei der aber jeder Muskel ihres Körpers gestrafft war. Der letzte Ton von Bizets »Symphonie in C« verklang. Die Nicols klatschte in die Hände: »In die Mitte bitte, meine Damen.« Sanna öffnete die Augen. Wie immer traf sie ihr eigener Anblick in dem großen Spiegel zutiefst. Eben noch hatte sie sich wie eine Elfe gefühlt, nun stand da ein pummeliges Mädchen, dessen Speckrollen sich in dem engen Trikot unbarmherzig abbildeten. Alle anderen Mädchen in der Klasse waren gertenschlank.
    Sie versammelten sich in einer Ecke des Raumes für die Grands jetés, die großen Sprünge. Idealerweise bildeten die Beine in der Luft dabei einen Spagat. Saskia war die Erste, sie sprang anmutig, bekam die Beine aber nicht besonders hoch. Die kleine, drahtige Nina nahm eifrig Anlauf, sprang hoch und weit, stolperte aber etwas bei der Landung, was der gewissenhaften Lehrerin ein missbilligendes Schnalzen entlockte. Dann war Sanna an der Reihe. Sie konzentrierte sich, nahm mit ein paar graziösen Schritten Anlauf, schloss die Augen und sprang. Es fühlte sich an, als würde ein unsichtbarer Tanzpartner sie in der Taille packen und durch den Raum tragen. Sie flog. Als sie wieder am Boden landete, wusste sie, dass der Sprung perfekt gewesen war.
    Nach der Stunde verabschiedete sie sich wie üblich mit einem Knicks von der Lehrerin. Die hielt ihre Hand einen Moment fest und sah ihr eindringlich in die Augen. »Wenn du deine Figur in den Griff kriegst, kann etwas aus dir werden, ma chère.«
    Auf dem Heimweg mit der U-Bahn quer durch die Stadt war sie vollkommen glücklich, ein Gefühl, das sie glaubte, seit Jahren nicht mehr empfunden zu haben. Zu Hause angekommen, verzog sie sich auf ihr Zimmer. »Ich hab keinen Hunger«, sagte sie, als die Mutter sie zum Abendessen holen wollte.
    »Bist du krank?«
    »Nein, ich hab einfach nur keinen Hunger.« Die Mutter schüttelte den Kopf und schloss die Tür. Den Rest des Abends trainierte Sanna verbissen Pirouetten, die sie noch nicht perfekt beherrschte. Später im Bett spürte sie ein forderndes Saugen in ihrem Magen. Es fühlte sich gut an.
    Theo und Hanna standen vor

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