In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Tivoli-Theater öffnete erst um 21.20 Uhr, doch Theo und Hanna waren schon eine Stunde zuvor da. Schließlich wollten sie Benno möglichst vor seinem Auftritt befragen. »Ich kann’s immer noch nicht fassen, dass der Typ hier auftritt«, murmelte Theo und schaute auf den verschnörkelten goldenen Schriftzug des Clubs.
Hanna rüttelte an der verschlossenen Glastür. »Mist«, sagte sie. Dann erspähte sie im Inneren einen Mann, der durchs Foyer ging. Energisch klopfte sie an die Tür und wedelte mit der Hand. Der Mann kam näher und deutete auf seine Armbanduhr. Hanna schenkte ihm ihr schönstes Lächeln und presste ihren Presseausweis an die Scheibe.
Der Mann öffnete. Er sah aus wie ein Model von Jean Paul Gaultier: weißblonder Schopf und ein enges Ringelshirt, unter dem sich ein perfekter Köper abzeichnete. Sein Lächeln war so gebleicht wie sein Haar.
»Wir würden gern zu Benno«, säuselte Hanna.
Der Gebleichte hob lasziv eine im Gegensatz zu seinem Haar dunkle Augenbraue. »Benno?«
»Benno Konradi. Der singt hier doch heute Abend«, sprang Theo ein.
»Ach DER Benno.« Der Blonde lächelte amüsiert. »Dann kommt mal rein, ihr zwei Hübschen.«
Theo hatte schon manche lange Nacht in dem Club verbracht, der komplett in Blau und Gold gehalten war. Die Bands, die hier auftraten, waren allesamt hochkarätig. Benno musste also einiges auf dem Kasten haben, wenn er hier ein Engagement ergattert hatte. Neugierig folgte er dem Ringelpulli hinter die Kulissen.
»Voilà, da wären wir«, sagte dieser und deutete auf eine schmucklose Tür mit der Aufschrift »Garderobe«.
Hanna überließ Theo den Vortritt. Er klopfte.
»Ja bitte«, ertönte es von drinnen. Vor einem großen, von Glühbirnen umfassten Schminkspiegel, Modell Hollywood, saß eine hochgewachsene schlanke Frau. Sie trug ein silbernes, paillettenbesetztes Kleid. Eine Flut tiefschwarzen Haars ergoss sich über ihren Rücken.
»Entschuldigen Sie«, sagte Theo. »Wir suchen Benno Konradi.«
Die Frau ließ lasziv einen bordeauxroten Lippenstift über ihre Lippen gleiten. Dann nahm sie ein Schminktuch, um die überschüssige Farbe abzutupfen. Sie zog eine Schnute, begutachtete das Ergebnis und drehte sich dann zu ihren Besuchern herum. »Hallo Theo«, sagte sie.
»Benno?« Theo starrte die Frau fassungslos an.
»Delilah«, korrigierte Benno und ließ die langen Wimpern klimpern.
Hanna lachte.
Theo war so perplex, dass er es ihr überließ, die Lage zu klären. In seiner Rolle als Delilah war Benno vollkommen verändert. Aus dem linkischen Mann war eine selbstbewusste Frau geworden. Sogar das Stottern war verschwunden. Benno/Delilah nahm eine Flasche Champagner aus einem nebenstehenden Kühler und schenkte allen dreien ein.
Theo leerte sein Glas in einem Zug, was ihm einen mild tadelnden Blick der Drag Queen einbrachte.
»Und jetzt ist also auch noch Nathalie Stüven verschwunden«, schloss Hanna ihren Bericht.
Benno warf Theo einen forschenden Blick zu. »Und da habt ihr also Sanna im Visier.« Er nahm einen Schluck aus dem Champagnerkelch. »Ich bin eigentlich nicht mal sicher, ob ich euch da weiterhelfen will. Verdient hätt sie es ja schon, jämmerlich zugrunde zu gehen, unsere Nathalie.«
»Nein«, sagte Theo, »das hat niemand verdient, so zu sterben.« Er zuckte zusammen, als der feine Champagnerkelch in Bennos Hand zerbarst.
»Haben Sie sich verletzt?« Hanna griff behutsam Bennos Hand. Benno starrte auf die Scherben. »Ich glaube nicht.«
Dann zuckte er mit den schmalen Schultern und sah Theo an. »Fakt ist: Ich kann euch tatsächlich nicht weiterhelfen. Sanna ist damals mit ihren Eltern weggezogen. Nach dem Eklat habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.«
Welcher Eklat?, wollte Theo fragen, doch dann fiel ihm die schreckliche Geschichte wieder ein.
Damals
Sanna stand vor dem Spiegel. Zu Weihnachten hatten die Eltern eine Wand ihres Zimmers verspiegeln lassen und eine Ballettstange montiert. Kritisch betrachtete sie ihren Körper. Ihr Busen war noch immer zu groß, aber sonst hatte sie nichts auszusetzen. Ihre Schlüsselbeine traten deutlich hervor, die Hüftknochen zeichneten sich unter dem schwarzen Trikot ab. Die einstmals runden Wangen waren verschwunden. An Po und Beinen befand sich kein Gramm überflüssiges Fett mehr. Sie packte einen Fuß und zog ihr Bein mühelos in die Höhe. Innerhalb eines halben Jahres hatte sie vierzehn Kilo Gewicht verloren. Täglich hatte sie sechs Stunden trainiert und nur gedünstetes Gemüse,
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