In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Geflügel und Fisch gegessen. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen sie mehr essen musste, als sie wollte, hatte sie sich anschließend auf der Toilette erbrochen. Sie hatte schnell gelernt, das vollkommen geräuschlos zu tun. Inzwischen ließ sie sich ganz einfach von niemandem mehr zum Essen zwingen. Auf der goldenen Hochzeit ihrer Großeltern hatte sie lediglich die Suppe gegessen. Rinderconsommé. Die Maultaschen darin hatte ihre kleine Schwester verspeist.
Die zunehmend besorgten Kommentare ihrer Mutter gingen ihr wahnsinnig auf die Nerven, wie ehemals die Ermahnungen, nicht so viel zu essen.
»Mama«, hatte sie erst gestern zum tausendsten Mal gesagt. »Ich will Tänzerin werden. Da kann ich mich nun mal nicht vollstopfen.«
»Aber heute ist doch dein Geburtstag«, hatte die Mutter gesagt und hilflos auf den Schokoladenkuchen geschaut, den sie gebacken hatte.
»Kein Problem, den übernehme ich«, war Carlotta, ihre kleine Schwester, eingesprungen und hatte einen Brocken Schokoladenguss stibitzt.
Es war erst 6.30 Uhr und sie hatte bereits ein einstündiges Trainingsprogramm absolviert. Damit die Eltern davon nichts mitbekamen, hatte sie ihren Walkman aufgesetzt. In der Nacht hatte sie kaum geschlafen, trotzdem fühlte sie sich elektrisiert, voller Energie. Am Nachmittag würde sie bei John Neumeier persönlich, dem bedeutenden Hamburger Ballettmeister, vortanzen dürfen. Ihre große Chance für eine richtige Ballettkarriere. Sie hatte im letzten Jahr hart gearbeitet und zweifelte nicht daran, dass sie die Prüfung bestehen würde.
Sie hatte ihren Eltern das Versprechen abgerungen, dass sie in dem Fall von der Schule abgehen dürfte. Kein Gymnasium, kein Abitur und erst recht keine Scheiß-Nathalie mehr. Dass sie so schlank geworden war, hatte die Feindseligkeit des bösen Trios keinesfalls besänftigt. Sie stichelten eher mehr als zuvor. Im Unterschied zu früher ließ sie das jedoch inzwischen weitgehend kalt. Es war ihr lästig, aber es kränkte sie nicht mehr. Bald würde sie das alles hinter sich lassen und keinen Gedanken mehr an ihre Mitschüler verschwenden. Sie schlüpfte aus dem durchgeschwitzten Trikot. Ihre Ausrüstung für den heutigen Tag hatte sie schon am Vorabend zurechtgelegt. Ein nagelneues schwarzes Wickeltrikot mit kurzem schlichtem Rock. Dazu rosafarbene Spitzenschuhe, die perfekt eingetragen waren. Die Sohle war nicht mehr ganz steif und ermöglichte so die erforderliche Überstreckung des Spanns, bot aber gleichzeitig genug Halt.
Unter der Dusche ging sie noch einmal die Choreografie durch, die sie sich ausgesucht hatte. »Daphnis und Chloe« von Ravel war schon immer eines ihrer Lieblingsstücke gewesen. Es steckte so viel Leidenschaft darin. Mit geübten Handgriffen schlang sie die langen Locken zum strengen Dutt.
Sie ging in die Küche und machte sich einen Eiweiß-Shake, der ausnahmsweise auch reichlich Kohlenhydrate enthielt. Heute brauchte sie Kraft. Neben der Dose in sterilem Weiß stand die Packung Schokomüsli, für das ihre Schwester eine Vorliebe entwickelt hatte.
»Bist du schon auf?« Carlotta stand gähnend im Pyjama in der Küchentür. Mit einem Zeh kratzte sie sich am Unterschenkel.
Sanna lächelte ihr zu. »Ja, ich bin ein bisschen aufgeregt.« Jetzt, wo sie selbst so viel abgenommen hatte, fiel ihr erstmals auf, wie ähnlich sie und die Schwester einander waren: die vollen Lippen, die blasse Haut, das schwarz gelockte Haar, das Carlotta lieber kurz trug. Vom Wesen her allerdings waren die Schwestern grundverschieden: die sensible, schüchterne Sanna und Carlotta, der widerspenstige Wirbelwind.
Fragend hielt sie der Zwölfjährigen die Müslipackung hin. Die ließ sich zur Antwort auf einen Küchenstuhl sinken. Sanna schüttete eine gehörige Portion der Frühstücksflocken in eine Schüssel und gab Milch darüber. »Kann ich ein bisschen Banane dazu haben?«, bat Carlotta.
»Klar.« Sanna schnippelte eine halbe Frucht über das Müsli und stellte der Schwester die Schüssel hin.
»Hast du Bammel?«, fragte Carlotta, nachdem sie ihr Frühstück verputzt hatte.
»Nein, gar nicht. Ich bin total sicher, dass es klappt.«
»Toll«, seufzte Carlotta. »Ich wünschte, ich könnte auch so tanzen wie du.«
»Quatsch.« Sanna verwuschelte ihr die Haare. »Du findest Ballett doch stinklangweilig.«
Carlotta lachte. »Stimmt. Damals hab ich damit nur angefangen, weil ich so sein wollte wie du. Taekwondo macht viel mehr Spaß.«
Sanna verzog zweifelnd das
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