In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Gesicht.
»Trotzdem«, sagte Carlotta ernsthaft. »Dich finde ich toll, wenn du tanzt.«
Der Schultag verlief zäh wie Sirup. Die französische Grammatik ließ Sanna ebenso kalt wie die Integralrechnungen. Und auch die Fünf in Chemie, die Herr Schröder ihr grimmig auf den Platz knallte, war ihr vollkommen gleichgültig. In drei Monaten hätte sie ihre Mittlere Reife in der Tasche, dann wäre sie ohnehin weg von hier.
In der großen Pause kam Benno zu ihr hinüber. In der Hand hielt er einen kleinen Gegenstand, den er unbeholfen in ein Stück Papier gewickelt hatte. Eine rosafarbene, schlaffe Schleife hielt das Arrangement zusammen. »Ffühür ddich«, presste er heraus. »Als Ttt.« Er grinste schief und unternahm einen neuen Anlauf. »Ttalisman.«
Benno war der Einzige, dem Sanna von ihrem großen Tag erzählt hatte. Seit der Sache mit dem Balletttrikot, das er Reinhold und Sebastian so heroisch wieder abgenommen hatte, waren sie so etwas wie Freunde geworden. Nur dass sie für Freunde inzwischen keine Zeit mehr hatte.
»Danke«, sagte sie und wickelte das Paket aus. Darin befand sich ein winziger Spitzenschuh aus Porzellan.
Ein Schatten fiel auf das Präsent. »Wie rührend«, sagte eine Stimme neben ihr. Sanna zuckte zusammen. Nathalie hatte ein hochmütiges Lächeln aufgesetzt. »Wie rührend, zwei Loser, die sich gefunden haben.«
»Ssanna ist kein Lloser«, protestierte Benno. »Sie ttanzt heute bbei der Staatsoper vor!«
Nathalies Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du glaubst doch selbst nicht, dass die jemanden wie dich nehmen«, sagte sie verächtlich und stolzierte davon.
»Blöde Kuh«, sagte Sanna leise. Den Porzellanschuh in ihrer Hand hielt sie so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten.
In der letzten Stunde stand Sport auf dem Plan. Sicherheitshalber hatte sie sich mit der vorgeschobenen Begründung, sie habe ihre Regel, davon befreien lassen. Sie wollte das Risiko, sich ausgerechnet heute zu verletzen, nicht eingehen. Nun saß sie auf einer der Bänke, die entlang der Turnhallenwand aufgereiht waren, und sah den anderen bei ihren Übungen zu. Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr. Um Viertel vor zwei wollte sie hier raus sein. Als endlich die Glocke ertönte, wollte sie sich schnellstens aus dem Staub machen, doch der Sportlehrer hielt sie zurück. »Wenn du schon nicht mitturnst, kannst du wenigstens beim Aufräumen helfen.«
Stöhnend wuchtete sie mit den anderen eine Bodenmatte nach der anderen in das muffige Kabuff, in dem die Sportgeräte gelagert wurden. Als Letztes schob sie einen lederbezogenen Bock hinein. Dann wischte sie sich die Hände an der Hose ab und wandte sich zur Tür. Doch die wurde von außen geschlossen.
»Halt«, rief sie, »ich bin noch hier drin!« Sie hatte Dunkelheit noch nie ausstehen können. Noch während sie zur Tür hastete, hörte sie, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. »Lasst mich raus«, schrie sie und schlug mit den flachen Händen gegen die Holzverkleidung. Der Schlüssel wurde abgezogen und Schritte entfernten sich. »Lasst mich hier raus!« Sie rüttelte an der Klinke. Dann sank sie wimmernd zu Boden. In der Turnhalle wurde das Licht gelöscht. Nun war es fast vollkommen dunkel.
»Man hat sie erst spät abends gefunden, erinnerst du dich?« Benno goss den letzten Rest Champagner in ein neues Glas.
Theo schüttelte den Kopf.
»Sie hat nie mehr ein Wort mit mir gesprochen. Wahrscheinlich fand sie, dass ich mit schuld an der Sache war.«
»Wieso denn das?«
»Immerhin hatte ich es Nathalie verraten, dass sie an dem Tag das Vortanzen hatte.«
»Und was ist aus ihrer Tanzausbildung geworden?«, wollte Hanna wissen.
Benno schüttelte traurig den Kopf, sodass die langen schwarzen Haare der Perücke hin- und herschwangen. »Ich glaube nicht, dass sie es noch einmal probiert hat. Sie ist dann auch bald weggezogen mit ihren Eltern.«
»Wohin überhaupt?«, fragte Hanna.
»Keine Ahnung, wirklich nicht.«
KAPITEL 20
Hadice und Henry saßen frustriert in Grasmanns Büro. Die Zeugenbefragungen im Augusta und mit den Trinkkumpanen von Reinhold hatten rein gar nichts ergeben. In dem portugiesischen Restaurant hatten die Männer nur Augen für das Fußballspiel gehabt. Ja, Sebastian hätte an der Bar mit einer attraktiven Frau getrunken, aber nein, sie wüssten nicht, wann sie gegangen seien und ob gemeinsam. Und die Kumpels von Lehmann waren auch nicht viel ergiebiger gewesen bei tiefer gehenden Fragen.
Die Kollegen
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