In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
gehabt«, stellte Hadice fest, während sie mit der linken Hand die Krankenakte auf dem Tisch durchblätterte.
Franke seufzte. »Das ist leider richtig. Sehen Sie, Psychosen sind gar nicht so selten, wie man gemeinhin meint. Immerhin jeder Zehnte erlebt im Laufe seines Lebens eine. Etwa jeder Fünfte wird vollständig geheilt, bei den Übrigen tauchen sie aber immer wieder einmal auf. Das ist auch bei Sylvia Kuhn der Fall.« Sein Blick fiel auf die Trümmer seines Käsekuchens, den er während des Gesprächs geistesabwesend zermanscht hatte. »Zum Glück gehört sie nicht zu jenen zwanzig Prozent der Betroffenen, die so schwer erkrankt sind, dass sie keinen Beruf ausüben können.« Er schaufelte Kuchenmatsch auf seine Gabel und balancierte sie Richtung Mund. »Sylvia Kuhn ist eine ganz bemerkenswerte junge Frau. Ein brillante, hochoriginelle Denkerin.«
»Hängt das irgendwie zusammen? Ihre professionelle Brillanz und ihre Krankheit, meine ich?«
»Davon gehe ich aus.« Langsam erwärmte sich der Psychiater für das Gespräch. Genau zu diesem Thema hatte er schon mehrere Fachartikel veröffentlicht. Er ließ die Gabel samt Ladung zurück auf den Teller sinken. »Sowohl Schizophrene als auch besonders kreative Menschen nehmen alle Reize, die in ihrem Gehirn eintreffen, ungefiltert und unsortiert wahr. Die Gefahr dabei ist, in der Flut der Informationen zu ertrinken. Darauf reagiert das Gehirn mit Denkstörungen und Halluzinationen.«
»Und das sind die Hauptsymptome einer Schizophrenie.«
»Richtig. Den Kreativen gelingt es, das Chaos zu nutzen, um originelle, ungewöhnliche Zusammenhänge herzustellen. Übrigens gilt das weniger für die klassischen künstlerischen Talente, wie etwa Maler oder Literaten, das trifft vor allem auf Naturwissenschaftler zu. In Familien von Mathematikern beispielsweise ist die Neigung zu Schizophrenie deutlich höher als in der übrigen Bevölkerung.«
»Und Sylvia Kuhn ist Physikerin.« Hadice schaute zu Henry hinüber, der das Gespräch aufmerksam verfolgte. Sie knabberte an ihrem Daumennagel. »Diese psychotischen Schübe – wie haben die sich denn bei Sylvia Kuhn geäußert?«
Franke presste ein paar Käsekuchenteile nun zu einem kompakten Ball zusammen. »Sehen Sie, ganz typisch für Schizophreniepatienten ist, dass sie Ereignisse, die andere als zufällig betrachten würden, mit Bedeutung versehen. Frau Kuhn war von der Idee besessen, Botschaften vom Universum zu erhalten.«
»Was denn für Botschaften?«
»Es ging darum, eine Art kosmisches Gleichgewicht wieder herzustellen. Ungerechtigkeiten auszugleichen, beispielsweise. Sie hat ein ausgeprägtes Moralempfinden.«
»Universelle Gerechtigkeit?«
»Exakt.«
»Davon hat sie uns auch erzählt.«
Franke schwieg, dann räusperte er sich. »Verzeihung.« Er atmete tief durch. »Das ist allerdings etwas besorgniserregend.«
»Wieso das?«
Er zögerte. »Es könnte darauf hinweisen, dass sie einen neuen Schub hat.«
Für 15 Uhr hatte sich Theo mit Pfarrer Hoffmann in der katholischen St. Maximilianskirche verabredet. Eine der älteren Ordensschwestern, die der Gemeinde angehörten, war gestorben, die Trauerfeier sollte am kommenden Dienstag stattfinden. Nachdem er sich von Hanna verabschiedet hatte, holte er sein Rennrad aus dem Schuppen und fuhr damit den Finkenriek hinunter zum Callabrack. Die Ufer des Tümpels waren von Schilf umsäumt, durch das Enten und mitunter auch ein Schwan pflügten. Ein alter Baum, den vor vielen Jahren einmal ein Blitz getroffen hatte, hatte den himmlischen Stromschlag überlebt und neigte sich nun tief über das Wasser. Der Teich war schon alt, das Wasser grün und unergründlich. In seiner Kindheit hatten sie sich Geschichten erzählt von unglücklichen Frauen, die hier »ins Wasser gegangen« waren. Die Ufer des Bracks waren angeblich steil und trichterförmig. Wer einen Fuß hineinsetze, rutsche unerbittlich in die Tiefe, wurde stets gewarnt. Beim Eislaufen hatte ihn der Gedanke daran immer mit einem köstlichen Gruseln erfüllt. Theo hatte nicht verstanden, wie man sich so das Leben nehmen konnte, bis ihn sein Vater darüber aufgeklärt hatte, dass früher viele Menschen – auch Erwachsene – nicht schwimmen konnten. Diese erstaunliche Information hatte Theo gespeichert.
In gemäßigtem Tempo fuhr er die Straße Am Papenbrack entlang, wo rechts und links Doppelhäuser standen, die von großen, lang gestreckten Gärten umgeben waren. Sie waren für die vielen Arbeiter und ihre
Weitere Kostenlose Bücher