In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Familien gebaut worden, die sich im Wilhelmsburger Hafen und den angrenzenden Industrien ihren Lebensunterhalt verdienten. Damals waren die großen Gärten kein Luxus gewesen, sondern wurden zum Anbau von Obst und Gemüse genutzt. Von der ursprünglichen Fachwerkarchitektur blitzte heute nur noch sporadisch etwas hervor. Die meisten Häuser waren verschalt und auf bis zu dreifache Größe ausgebaut worden, sodass sie inzwischen alle höchst unterschiedlich aussahen. Die Straße mündete am gleichnamigen Teich in eine Sackgasse, die von Fußgängern und Fahrradfahrern aber überquert werden konnte, sodass Theo seinen Weg, der Straße Zur guten Hoffnung folgend, fortsetzen konnte. Er kam am Blumenladen Krippke vorbei. Anders als in den stylischen Geschäften der Innenstadt wurden hier immer noch überwiegend klassische Sträuße angeboten, gern auch mit ein bisschen Glitzer auf den Blättern. Moderner Minimalismus war in diesem Stadtteil noch nicht angekommen.
Er kreuzte die vierspurige Neuenfelder Straße. Bis vor einigen Jahren hatte es dort noch den kleinen Supermarkt Wittfoth gegeben, der trotz seiner höheren Preise viele Jahre dem Einkaufszentrum am Bahnhof Wilhelmsburg getrotzt hatte. Als Schüler hatte sich Theo hier gern auf dem Heimweg ein zimtklebriges Franzbrötchen gekauft. Als der alte Besitzer aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, hatte sich kein Nachfolger gefunden. Auch die Aldi-Filiale war einem großen türkischen Gemüseladen gewichen. Daneben befand sich ein Dönerimbiss. Der Friseursalon Leinung, in dem ihm seine Mutter mit acht Jahren den ersten professionellen Haarschnitt hatte verpassen lassen, existierte hingegen immer noch. Neu war allerdings sein im Schaufenster ausgestelltes Angebot an Damenmode – ein zweites Standbein des Friseurs.
Theo umkurvte ein paar kichernde Schulmädchen türkischer Herkunft. Von hier waren es nur noch wenige Minuten bis zur Pfarrkirche St. Maximilian Kolbe. Sie war in den Siebzigerjahren in einer höchst eigenwilligen Konstruktion errichtet worden. Anders als im Süden Deutschlands, wo die katholische Kirche noch immer die Vorherrschaft genoss, hatten im evangelischen Norden die Protestanten die schönen alten Kirchen okkupiert, sodass viele katholische Gemeinden mit Neubauten vorliebnehmen mussten. Graue Betonwände schraubten sich schneckenförmig nach oben und mündeten in einen spitz zulaufenden Turm. Theo musste bei dem Anblick stets an eine aufgedröselte Pappröhre denken, die im Inneren einer Klopapierrolle steckte.
Von innen gefiel ihm das Gebäude deutlich besser. Er mochte die wagenradähnliche hölzerne Deckenkonstruktion und die geschickte Lichtführung. Unter der Decke schwebten große Bilder wie Mobiles. Auch der halbrunde Raum vor dem Altar, der mit flächigen, dicht an dicht gesetzten Natursteinen gepflastert war, gefiel ihm: ein ansprechender Mix aus Naturelementen und der Sachlichkeit des Betons. Nur das Kreuz irritierte ihn: Christus schwebte mit ausgebreiteten Armen vor einer leicht konkaven, weißen Platte, die Theo unweigerlich an eine Satellitenschüssel erinnerte.
Der Pfarrer erwartete ihn bereits. Er war Mitte vierzig, sah aber mit seinem faltenlosen Gesicht und den runden Wangen trotz des zurückweichenden Haaransatzes jünger aus. Er kam auf Theo zu. »Danke, dass Sie sich die Mühe machen«, sagte er.
Theo gab ihm die Hand. »Kein Problem.«
Sie hatten vereinbart, den Ablauf der anstehenden Beerdigung vor Ort durchzusprechen, denn der Pfarrer erwartete hohe Gäste: Sogar Hamburgs katholisches Oberhaupt, der Erzbischof, hatte sich angekündigt. Die Verstorbene, Schwester Theresia vom Orden der Katharinenschwestern, war sechsundsechzig Jahre alt geworden. Davon hatte sie Gott, ihrer Kirche und den Menschen der Gemeinde dreißig Jahre treu und bescheiden gedient. Doch nun, so hatte sich herausgestellt, hatte sie sich eine höchst unkonventionelle Beisetzung gewünscht.
Theo staunte über die Wahl der Lieder: »Janis Joplin?«
Der Pfarrer nickte. »Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz«, sang er. »Immerhin fleht sie darin Gott um Hilfe an.«
»Für ein teures Auto und einen Farbfernseher?« Theo grinste.
»Das ist Konsumkritik«, korrigierte der Pfarrer. »Absolut christlich verwurzelt.«
Ebenfalls auf der Liste stand das Lied »Aquarius« aus dem Musical »Hair«.
»Schwester Theresia war ein wilder Feger, bevor sie ihr Leben Gott geweiht hat. Eine waschechte Hippiebraut, wie man sich erzählt.«
»When the
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