Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
Vom Netzwerk:
silberfarbenen Kugeln hingegen war noch die alte geblieben. Er lief die Treppe vor dem Gebäude hinauf und legte beide Handflächen an das Objekt. Hier hatte er vor siebzehn Jahren gestanden, das Abi-Zeugnis in der Hand, aufgereiht mit seinem Jahrgang. Jonas hatte damals schon gefehlt, ebenso Sanna. Er betrachtete sein grotesk verzerrtes Antlitz in den Kugeln. »Verdammt«, sagte er und wandte sich ab.
    Am Wochenende war die Schule ausgestorben. Er spazierte auf den Schulhof, den er so viele Jahre täglich betreten hatte. An die Aula schloss sich linkerhand das Gebäude mit dem Schulleiterbüro und dem Lehrerzimmer an. An der Glastür klebten Zettel mit Hinweisen auf Veranstaltungen und Workshops sowie einem Kreativseminar. Gegenüber stand ein vierstöckiger Komplex, in dem Klassenzimmer bis zur zehnten Klasse untergebracht waren. Weiter hinten auf der linken Seite befand sich das Oberstufengebäude. Und schließlich ein Komplex mit Fachräumen: Biologie, Chemie, Physik und Kunst.
    Er erinnerte sich noch gut an die mitunter chaotischen Unterrichtsstunden bei Herrn Kolbe. Bei dessen chemischen Darbietungen war so oft etwas schiefgegangen, dass er die Schüler unter Androhung schwärzester Noten zur Assistenz zwingen musste. Theo überlegte kurz, ob die Flecken, die die Experimente an der Decke des Chemielabors hinterlassen hatten, noch immer zu sehen sein würden. Er wanderte um das Gebäude herum und hielt inne, als er eine weitere Person auf dem Gelände erblickte. Sie stand genau dort, wo Jonas vor zwanzig Jahren nach seinem Sturz vom Dach auf dem Boden aufgeschlagen war. Die Frau trug einen beigefarbenen Trenchcoat, der im aufkommenden Wind flatterte. In einem weiten Bogen schnippte sie eine Zigarette ins Gebüsch. Er erkannte sie erst, als sie sich ihm zuwandte.
    »Sylvia …«

KAPITEL 23
    Hadice bohrte einen Kugelschreiber zwischen Bein und Plastikschiene.
    »Lass das«, sagte Henry.
    »Aber es juckt wie Hölle.«
    »Das macht es nur schlimmer.«
    Hadice seufzte und zog den Stift wieder hervor. »Wir müssen sie uns noch einmal vorknöpfen.«
    »Sylvia?«
    »Wen sonst.«
    Wie am Vortag rief sie zunächst bei DESY an und stellte den Apparat auf laut.
    »Frau Dr. Kuhn ist heute nicht im Hause«, sagte der Pförtner Einstein. Seine Stimme war unverkennbar.
    »Ist das irgendwie ungewöhnlich?«, wollte Hadice wissen.
    »Kann ich Ihnen nicht sagen, meine Dame. Hier gibt es über tausend Angestellte …«
    »Schon gut. Können Sie versuchen, jemanden aus ihrer Abteilung an den Apparat zu kriegen?«
    Einstein stöhnte auf. Hadice stellte sich vor, wie er sich mit einer Broschüre Luft zufächelte.
    »Ich probier’s.«
    Zwölf nervenzehrende Minuten in diversen Warteschleifen unter gnadenloser Musikbeschallung später hatte er tatsächlich jemanden für sie aufgestöbert. Nils Schuhmacher war Doktorand und damit Sklave seiner Herrin. »Sie hat gesagt, sie kommt heute nicht rein.«
    Er klingt erschöpft, dachte Hadice. »Kommt das öfter vor?«
    »Na ja, eigentlich nicht.«
    »Was heißt das: eigentlich?«
    »Das heißt, dass wir gerade in einer Versuchsreihe sind, und da hat sie normalerweise gern selbst ein Auge drauf.«
    »Und wieso jetzt nicht?«
    »Keine Ahnung. Aber in letzter Zeit ist sie seltener im Institut als sonst.«
    Hadice warf Henry einen raschen Blick zu. »Seit wann geht das schon so?«
    »Keine Ahnung.«
    »Es ist wichtig.«
    Nils überlegte und kratzte dabei seinen Dreitagebart. Das Geräusch verursachte bei Hadice eine Gänsehaut. »Zwei Wochen vielleicht.«
    Hadice warf Henry einen triumphierenden Blick zu. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt war Reinhold verschwunden.
    Versonnen blickte Nils nach Ende des Gesprächs auf das Telefon. Bis zu dem Anruf war ihm vor lauter Arbeit gar nicht bewusst gewesen, dass Dr. Kuhn momentan vergleichsweise selten im Institut auftauchte. Er lächelte glücklich. Vielleicht hatte sie endlich seine wissenschaftlichen Qualitäten zu schätzen gelernt und vertraute ihm daher mehr an als früher. Mit neuem Elan vertiefte er sich wieder in die Datenflut, die die letzten Experimente abgesondert hatten. Dabei lag er mit seiner Annahme völlig falsch.
    Zwanzig Minuten später standen Henry und Hadice vor einem roten Backsteingebäude in der Eppendorfer Landstraße, in dem Sylvia Kuhn dem Einwohnermeldeamt zufolge lebte. Obwohl sie sie telefonisch nicht erreicht hatten, hatten sie sich entschlossen, persönlich vorbeizuschauen.
    Hadice warf einen Blick auf das Klingelschild.

Weitere Kostenlose Bücher