In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
ein.«
»Wer redet denn hier von roher Gewalt?« Henry zog einen Prick aus der Hosentasche hervor, ein professionelles Werkzeug zum Öffnen von Türen. Es dauerte weniger als eine Minute und die Tür sprang auf. »Voilà.« Mit einer galanten Geste überließ er seiner Kollegin den Vortritt.
»Sylvia?«, rief Hadice in die Diele. »Ich bin’s, Hadice. Bist du da?«
Als niemand antwortete, betraten sie die Wohnung. Sie war sparsam möbliert und nahezu klinisch rein. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinströmte, ließ das blank gebohnerte Parkett in einem warmen Honigton leuchten. Sämtliche Wände waren offenbar erst kürzlich weiß gestrichen worden, keinerlei Dekoration unterbrach die strahlenden Flächen.
Als Erstes steuerten sie die Küche an. Die Einbauschränke waren ebenfalls weiß und wirkten mit ihren glänzenden Lackfronten, als hätte hier noch nie ein Mensch gekocht. Die verchromten Armaturen blitzten und das Spülbecken aus weißem Porzellan sah aus, als habe man es noch nie benutzt. Wie bei den meisten Altbauten ging die Speisekammer von der Küche ab.
Sie hörten das Geräusch sofort. Ein Surren und dann ein wiederholtes Rumpeln, als würde ein großes Insekt gegen eine Scheibe donnern.
»Das klingt irgendwie nicht wie ein Mensch«, sagte Hadice.
»Lass mich.« Henry trat vor und entsicherte seine Waffe. Dann öffnete er behutsam die Tür zur Abstellkammer.
Sofort kam ihnen ein flaches schwarzes Ding entgegen. Es steuerte direkt auf Hadice zu. Die machte einen ungelenken Schritt zur Seite.
»Was zum Teufel ist das?« Ihr schoss der Verdacht durchs Hirn, dass es sich um irgendein irres Experiment handelte, das Sylvia nach Hause verlegt hatte. Das Ding blinkte gefährlich und wechselte abrupt die Richtung.
Henry lachte schallend. Als er wieder Luft holen konnte, sagte er: »Sie hat vergessen, ihren Putzroboter auszustellen.«
Jetzt ließ sie sich schon von einem verdammten Haushaltsgerät erschrecken! Hadice war sauer.
»Hält so ein Ding denn tagelang durch?«
»Normalerweise nicht. Aber seine Ladestation ist in der Kammer.«
Während Henry ins Nachbarzimmer ging, öffnete sie routinemäßig den Kühlschrank. Bis auf eine Flasche Mineralwasser und eine noch ungeöffnete Tüte Milch war er leer. »Wovon lebt die Frau?«, fragte sie und ließ die Tür des Kühlgeräts mit leisem Ploppen zufallen. Auch im Wohnzimmer war kaum eine Spur von Leben zu finden. Eine weiße, teuer aussehende Couch stand unter dem Fenster, über die sich eine moderne Leselampe neigte. Sehr puristisch, dachte sie.
Sie öffnete eine weitere Tür und befand sich im Schlafzimmer. Auch hier blieb Sylvia ihrem Stil treu: deckenhohe schneeweiße Einbauschränke und ein Bett mit weißen, teuer aussehenden Bezügen. Hadice öffnete den Kleiderschrank, der nur spärlich befüllt war. Dafür waren die T-Shirts und Pullover mit militärischer Akkuratesse gefaltet und gestapelt worden. »Die Frau hat ja wirklich ’nen Knall«, sagte sie.
Vom anderen Ende der Wohnung her hörte sie Henry rufen. Schnell humpelte sie hinüber zu ihm. Ins Arbeitszimmer der Physikerin. Weißer Schreibtisch, weiße Regale, gefüllt mit weißen Ordnern, registrierte Hadice, bevor ihr Blick auf die Wand gegenüber dem Schreibtisch fiel.
»Schau dir das an.«
Hadice stieß einen leisen Pfiff aus. Die Wand war über und über mit ausgedruckten Zeitungsartikeln, Fotos und weiteren Papieren beklebt. Zwischen den Zetteln hatte jemand mit einem schwarzen dicken Stift säuberliche Pfeile gezogen, die Querverbindungen in der Kollektion herstellten: ein gigantisches Netzwerk von eigenartiger Ästhetik.
Sekunden später entdeckte Hadice die Todesanzeige von Sebastian und dann ein verwaschenes Konterfei von Reinhold in dem Geflecht, das Sylvia vermutlich aus einem alten Klassenfoto herauskopiert hatte. Auch Zeitungsausschnitte, die Nathalies politische Auftritte dokumentierten, hingen an der Wand. Dazwischen verstreut immer wieder Bilder und Texte, deren Zusammenhang mit dem Übrigen sich Hadice nicht unmittelbar erschloss: ein Bild der einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Centers, eine Zeitungsnotiz über den Tod eines vernachlässigten Kindes.
Henry deutete auf ein Blatt, das im Zentrum des Geflechtes hing. Es war die Einladung zum Jahrgangstreffen von Theos Abiturklasse. »Das scheint irgendwie das Epizentrum zu sein.«
Sie sahen einander an. Sollte das Klassentreffen tatsächlich der Auslöser für die Morde gewesen sein? Hadice zog
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