In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
rang nach Luft.
Nathalie tätschelte ihm die Wange. Sie packte sein Kinn und zwang ihn, sie anzuschauen. »Trinken«, befahl sie.
Er stöhnte und ließ sich widerwillig noch ein paar Schlucke einflößen.
»Nathalie, wie kommst du denn hierher?«
»Das wüsste ich, ehrlich gesagt, auch gern.« Sie lachte. Es klang eingerostet.
Theo betrachtete sie. Langsam kam das Karussell in seinem Kopf zum Stillstand. Von der stets tadellos frisierten, exquisit gekleideten Senatorin war wenig übrig. Ihr blondes Haar hing strähnig und verfilzt herunter. Das Abendkleid, das sie noch immer trug, war zerknittert und schmuddelig. Um die Schultern trug sie eine Decke undefinierbarer Farbe. Trotzdem hielt sie sich sehr aufrecht, das Kinn leicht erhoben, der Blick entschlossen.
»Besser?«, fragte sie ungeduldig.
»Oh, mir geht’s fabelhaft.« Er kämpfte gegen eine weitere Welle der Übelkeit.
»Los, sag schon, wie bist du hier gelandet?« Theos Auftauchen gab ihr einen Teil ihres üblichen Kampfesmuts zurück und drängte die zunehmende Verzweiflung zurück.
Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Sein Kopf schmerzte. Er griff sich an den Hinterkopf und ertastete eine tüchtige Beule. Hatte man ihn niedergeschlagen? »Nachdem du verschwunden warst, hab ich angefangen, mich selbst ein bisschen umzuhören.«
»Erzähl.« Wenn Theo ihrem Entführer so nahe gekommen war, dass dieser ihn schnappen konnte, dann konnten andere das auch schaffen. Sie war elektrisiert.
Er berichtete von seinen Besuchen bei Franziska und Benno und seinen vergeblichen Mühen, eine Spur von Sanna zu finden.
»Du meinst, Sanna steckt dahinter?«
»Ich weiß es nicht. Sie oder vielleicht auch Benno. Aber neben Jonas habt ihr ihr mit Sicherheit am übelsten mitgespielt.«
Nathalie presste die Lippen aufeinander. »Vermutlich«, sagte sie dann. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Schneidezähne. Sie fühlten sich belegt an. »Aber wie bist du hierhergekommen?«
Theo setzte sich auf und wartete, bis der Schwindel nachgelassen hatte. »Gute Frage. Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich muss wohl so eine Art Blackout haben.«
»Ging mir auch so. Aber das gibt sich.« Sie erhob sich und ging unruhig auf und ab. Mit ihrer Decke sah sie aus wie ein alter Indianerhäuptling.
»An was kannst du dich als Letztes erinnern?«
Theo zögerte. »Da war dieses Gespräch mit dem Priester am Nachmittag. Und dann bin ich zu unserer alten Schule hinübergelaufen …« Er stutzte.
Nathalie merkte es und blieb erwartungsvoll stehen.
»Und da hab ich Sylvia getroffen.«
»Sylvia Kuhn? Was wollte die denn da?«
»Ich weiß nicht mehr genau …« Er sah sie vor sich in ihrem wehenden Trenchcoat. »Sie sah ganz verändert aus, richtig toll.«
»Wer, Sylvia?« Nathalie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sie hat mich auf einen Kaffee eingeladen.«
»Und bist du mit ihr mit?«
»Ich glaube schon.« Theo starrte vor sich hin. »Aber verdammt, ich weiß es nicht mehr.«
Nathalie stieß ein enttäuschtes Schnauben aus. »Wenn du sie zufällig getroffen hast, dann hast du sicher keinem Menschen erzählt, wohin du wolltest.« Sie lachte auf. »Das darf doch einfach alles nicht wahr sein.« Sie baute sich vor ihm auf. »Und die Polizei?«
Ihrem Ton war anzuhören, dass sie es gewohnt war, dass man ihr Rede und Antwort stand.
»Oh, keine Sorge, die laufen jetzt auf Hochtouren. Aufrufe im Fernsehen, das ganze Programm …«
Sie nickte grimmig.
Wider Willen musste er ihre Haltung bewundern. »Hadice ist auch dabei. Du weißt, die ist ein Terrier. Die gibt nicht so schnell auf. Und sie ist sehr clever.«
Sie setzte sich neben ihn. Er stellte fest, dass sie ein wenig streng roch.
»Wie viel Zeit bleibt mir noch?« Sie war nahe daran, hysterisch zu werden, doch ihre Stimme klang vollkommen beherrscht.
»Wie lange bin ich schon hier?«
»So ein, zwei Stunden vielleicht. Ich habe keine Uhr und mein Zeitgefühl hat auch gelitten.«
Da er ganz offenbar keine schwere Schädelverletzung hatte, konnte der Schlag auf den Kopf allein keine so lange Ohnmacht erklären. Wer immer ihn ausgeknockt hatte, hatte ihm offenbar anschließend noch ein Betäubungsmittel verpasst. Theo versuchte, seinem wattigen Hirn ein paar simple Rechenaufgaben abzuringen.
»Du bist Donnerstagnacht verschwunden.«
Nathalie nickte. »Ich war nach der Oper noch auf ein Glas im ›Vier Jahreszeiten‹. Und da habe ich jemanden getroffen. Eine Frau.« Sie lachte kurz auf. »Sie war ausgesprochen
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