In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte? Sie hat doch ein kleines Kind?«
»Carlito«, nickte der Mann. »Pfiffiges Kerlchen.« Er kratzte sich am Kopf. Die Stoppeln raschelten. »Die sind heute weggefahren. In irgendein Wochenendhaus von einer Bekannten, soweit ich weiß.« Er machte eine vage Bewegung mit der Hand. »Irgendwo bei Buxtehude.«
»Wissen Sie, wo genau? Oder wie die Bekannte heißt?«
Der Nachbar hob bedauernd die Hände. »Keinen Schimmer. So gut kenne ich die Dame nun auch wieder nicht – leider.« Er zwinkerte vielsagend. »Sie war allerdings ziemlich froh, rauszukommen. ›Der Junge treibt mich hier in den Wahnsinn‹, hat sie nur gesagt. Der ist ja auch sonst schon ein quirliges Kerlchen, aber jetzt hat er auch noch Windpocken und war seit Tagen eingesperrt. Da geht der buchstäblich die Wände hoch.«
Hadice hatte sich auf die Treppenstufe niedergelassen, das schmerzende Bein lang ausgestreckt. Sie war vollkommen fertig. Wenn sie die Augen schloss, sah sie tanzende Lichter. Ich muss was essen, dachte sie. Seit einem hastig verschlungenen Sandwich am Mittag hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen. Sie öffnete die Augen, doch die Lichter verschwanden nicht. Sie bewegten sich in langsamen Kreisen durch das Gebüsch, das den schmalen Rasenstreifen vor den Häusern begrenzte. »Glühwürmchen«, sagte sie leise. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt welche gesehen hatte. Die Sommer ihrer Kindheit schienen hingegen voll von ihnen gewesen zu sein. Wahrscheinlich waren die kleinen Kerle wie so viele Viecher vom Aussterben bedroht. Sie hörte, wie Henry hinter ihr leise die Tür öffnete und sich neben sie setzte. Er brauchte nichts zu sagen, sie wusste schon, dass auch dieser Versuch ein Fehlschlag gewesen war.
Benno stand vor dem geöffneten Kühlschrank in seiner winzigen Küche. Er lebte in einem ehemaligen Geräteschuppen auf dem Grundstück der Gärtnerei. Ihm gefiel, dass das Häuschen so weit ab vom Schuss lag. Es war klein, aber gemütlich: Unten ein einziger Raum, der als Küche und Wohnraum diente, unter dem Dach ein Schlafzimmer, dessen schräge Wände bis zum Boden reichten. Ein winziges Duschbad hatte er separat eingebaut. Benno trug ein schlichtes bordeauxrotes Seidenkleid und lange Glitzerohrringe, Lippenstift und falsche Wimpern. Auf die Perücke hatte er angesichts des warmen Wetters verzichtet. Er befand sich auf halber Strecke zwischen Benno und Delilah. Daher war er sich unsicher in der Wahl seines abendlichen Getränks. Delilah bevorzugte Champagner, alternativ höchstens ein gutes Glas Weißwein. Benno hingegen trank ganz gern auch mal ein Bier. Im Hintergrund liefen die »Tagesthemen«. Benno entschloss sich für Bier. Er öffnete die Flasche und gab der Kühlschranktür mit der Schulter einen Stups.
Aus dem Fernsehen erklang die Stimme von Caren Miosga. Als der Name Nathalie Stüven fiel, war Bennos Interesse geweckt. Er trat vor den Bildschirm und setzte die Bierflasche wenig ladylike direkt an den Mund. Die Mattscheibe ließ er dabei nicht aus den Augen. »Die Hamburger Polizei bittet um Hilfe bei der Suche nach der folgenden Person«, sagte Miosga. Dann wurde ein Bild von Sylvia Kuhn eingeblendet. Benno verschluckte sich, hustete und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Du meine Güte, Sylvia? Wurde die jetzt etwa verdächtigt? Er erinnerte sich an das dünne, große Mädchen, das unentwegt an ihren Haarsträhnen gelutscht hatte. Er hatte das immer ein bisschen eklig gefunden. Die Vorstellung, dass irgendjemand ernsthaft glauben könnte, dass sie jetzt Nathalie verschleppt und Sebastian und Reinhold erledigt haben könnte, amüsierte ihn. Andererseits war sie immer schon ein bisschen durchgeknallt gewesen. Insofern war sie eventuell doch gar keine völlig unwahrscheinliche Täterin in den Augen der Ermittler. Der Gedanke bereitete ihm Vergnügen.
Die Suche nach Nathalie musste wirklich eine große Sache sein, wenn man jetzt schon eine der wichtigsten deutschen Nachrichtensendungen einspannte.
Sylvia. Seit Jahren hatte er nicht an sie gedacht, bis er sie vor Kurzem zufällig in Wilhelmsburg getroffen hatte. Sie war in ein Haus an der Mühlenwettern gegangen, in dem er vor vielen Jahren ein einziges Mal zu einem Geburtstagsfest von ihr eingeladen gewesen war. Wer hatte das Fest noch veranstaltet? Ihre frühere Tagesmutter? Außer ihm waren nur noch zwei andere aus der Klasse dabei gewesen, Sanna
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