In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
noch. Aber ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er immer noch irgendwo in Wilhelmsburg steckt.«
»Das denke ich auch.« Grasmann knetete sein Kinn. »Immerhin sind die anderen Verschwundenen auch dort aufgetaucht.«
»Was macht die Fahndung nach Sylvia Kuhn?«, fragte Hadice ungeduldig.
»Bis jetzt gibt es noch keine Hinweise.«
Sie stöhnte frustriert.
Grasmann warf einen Blick auf die Uhr. »Aber in einer guten Stunde wird ihr Bild in den ›Tagesthemen‹ gezeigt.«
Kurz darauf waren sie schon auf dem Weg nach Wilhelmsburg. So spät am Abend waren die Straßen der Hansestadt frei. Henry fuhr schneller als erlaubt. Die Gebäude der Amsinckstraße flogen vorbei. Im abnehmenden Tageslicht des Großstadtabends grüßte eine leuchtende Miniaturausgabe des Riesenrads und lud zum Besuch des Hamburger Doms, jener großen Kirmes auf dem Heiligengeistfeld, die dreimal jährlich stattfand und somit fast schon eine Dauerinstitution in Hamburg war.
Hadice saß mit verkniffenem Gesicht auf dem Beifahrersitz. Der Knöchel, den sie entgegen ärztlicher Anweisung im Zuge der Ermittlungen nicht geschont hatte, schmerzte heftig. Sie kam sich vor wie der Hase aus der Fabel, der vom Igel und seiner Frau genasführt wird. Jede hoffnungsvolle Spur schien ins Nichts zu führen. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf nach hinten an die Nackenstütze. Sie verloren gerade ein Stück Kontrolle über die Ermittlungen. Wir reagieren statt zu agieren, dachte sie. Die Suche nach Sanna war derzeit vollkommen von ihrem Radar verschwunden, auch weil sie wusste, dass die Kollegen sich der Sache annahmen. Nachdem sie seit Stunden im Adrenalinrausch funktioniert hatte, machte sich nun die Erschöpfung breit. Sie war total erledigt.
Henry warf ihr einen raschen Blick von der Seite zu. »Wenn das jetzt auch nichts wird, fahr ich dich nach Hause und du schläfst dich erst mal aus.«
Die kultivierte Frauenstimme des Navigationsgeräts lotste sie auf die Reichsstraße. Henry nahm die Ausfahrt zum Wilhelmsburger Zentrum. Er staunte einmal mehr, wie nah die Elbinsel, die in seiner inneren Landkarte in irgendeinem Randbezirk von Hamburg verortet war, tatsächlich an der Innenstadt lag.
Auch an einem warmen Sonnabendabend war der Stadtteil sehr ruhig. Nachtleben fand hier offenbar wenig statt. Im Licht einer Bushaltestelle stand lediglich eine Gruppe junger Frauen, die mit frisch geföhnten Haaren, knalligem Lippenstift, der bestimmt kussfest war, und hochhackigen Sandalen einen bunten, lebendigen Kontrast zu der stillen Straße setzten.
Auch im Schwentnerring war alles still. Henry stellte den Motor ab. Hadice seufzte. »Ich hab langsam das Gefühl, dass das hier alles sinnlos ist.«
»Aber das scheint doch anfangs immer so«, erwiderte er. »Jede Menge Sackgassen und dann passt plötzlich alles zusammen.« Er umrundete den Wagen und öffnete die Tür für sie. »Komm schon, Mädchen, jetzt nicht schlappmachen.« Hadice hasste es, wenn man sie Mädchen nannte. Aber an diesem Abend fand sie es tröstlich.
Sie fanden den gesuchten Namen sofort. Laut Klingelschild lag die Wohnung im dritten Stock des nach hinten versetzten Gebäudes. Henry klingelte energisch. Zwei, drei Mal. Alles blieb still. Hadice hatte sich erschöpft an die Haustür gelehnt. Er trat einen Schritt zurück. In der Wohnung war, so weit er erkennen konnte, alles dunkel. Laut Melderegister wohnte hier Franziska Richter, fünfunddreißig, mit Carlos Richter, fünf Jahre alt. Eine alleinerziehende Mutter, dachte Henry. In der anderen Wohnung auf derselben Etage brannte Licht.
»Ich probier’s mal bei den Nachbarn.« Er klingelte bei »I. Ziccosinski«. Wie zum Teufel sprach man das aus?
Diesmal ertönte der Summer schon nach einer halben Minute.
»Bleib du ruhig unten, ich schau mal kurz nach.«
Der Mann, der ihn an der Tür im dritten Stock erwartete, sah ihm neugierig entgegen. Henry schätzte ihn auf Ende vierzig. Seine kurz geschorenen Haare waren grau meliert, er trug verwaschene Shorts und ein T-Shirt mit dem Aufdruck: TSV-Wilhelmsburg. Der Bauch, der sich darunter wölbte, ließ allerdings vermuten, dass die sportlich aktiven Zeiten des Mannes schon eine Weile zurücklagen.
»Na, Meister, was kann ich für dich tun?«
Henry hielt ihm seinen Polizeiausweis entgegen.
»Oha, hoher Besuch«, witzelte der Mann.
»Ich wollte eigentlich mit Ihrer Nachbarin sprechen.«
»Franziska?« Ziccosinski lachte. »Was willst du denn von der? Die ist harmlos, dafür
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