In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Rückweg antrat. Sie langte ungeduldig zum Türgriff auf der Fahrerseite, um ihm zu öffnen. Henry schwang sich in den Wagen, der unter seinem Gewicht erbebte. Er sah sie an. »Bingo«, sagte er dann.
Evi Liebermann hatte Sylvia irgendwann zwischen vier und halb fünf in Begleitung eines Mannes ins Haus gehen sehen, dessen Beschreibung auf Theo zutraf. Sie hatte zudem angegeben, überrascht gewesen zu sein. »Sonst nimmt sie eigentlich nie jemanden mit, soweit ich weiß«, hatte sie gesagt und Henry entschuldigend angeschaut. Dass man ihr Neugierde unterstellen könnte, war ihr offenbar unangenehm.
»Und, hat sie ihn auch wieder gehen sehen?«, wollte Hadice wissen.
»Das nicht. Aber sie hat später die Hecke hinterm Haus geschnitten, da hätte sie ihn sowieso nicht sehen können.«
»Reicht das für einen Durchsuchungsbeschluss?«
Henry seufzte.
Dann brach die Hölle los.
May stand am Sprossenfenster und blickte in den Sommerabend. Seit Theos Verschwinden war sie Stunde um Stunde immer rastloser geworden. Und so war sie froh, dass Hanna, Lars und Fatih beschlossen hatten, sich mit ihr in Theos Haus zu treffen. Hinter ihr am Küchentisch saß trotz der späten Stunde Lilly und malte ein Bild. Krummbeinige Träger schleppten einen gigantischen, offenbar gläsernen Sarg, in dem eine Person undefinierbaren Geschlechts lag. Hinter ihnen schritt eine bunte Schar Angehöriger, in absonderlichen Aufmachungen. Sie trugen phantasievolle Hüte, die eher nach Ascot als auf eine Beerdigung passten. Am Rand des Bildes stand ein Totengräber, der vage an Quasimodo erinnerte, vor dem offenen Grab, in der Hand eine große Schaufel. Lilly malte für ihr Alter ziemlich gut. Beerdigungsszenen waren ihr Lieblingsmotiv.
Sie hatte sich geweigert, allein zu Hause zu bleiben. »Ich kann sowieso nicht schlafen, bevor Theo wieder da ist«, hatte sie argumentiert und die sonst so strenge May hatte ein Einsehen gehabt, zumal am nächsten Tag keine Schule war.
Anfangs war May wütend gewesen, weil Theo den Termin mit dem Kunden verpasst hatte. Sie, die sonst im Umgang mit den Hinterbliebenen stets eine für sie untypische Geduld an den Tag legte, hatte diesmal mit zunehmender Gereiztheit den alten Mann beobachtet, der wieder und wieder die Seiten des Kataloges umgewendet hatte auf der Suche nach dem angemessenen Sarg für seine jüngst verstorbene Frau. Dabei war ein Strom an Anekdoten aus seinem Mund gequollen, wie er Annelise im Jahr 1953 auf einer Tanzveranstaltung kennengelernt hatte, er, der schneidige junge Dachdecker, und sie, die Tochter des Kaufmanns, mit den blitzenden Augen und dem frechen Mundwerk, in das er sich sofort verliebt hatte. Wie hübsch sie ausgesehen hatte bei ihrer Hochzeit, mit ihren blonden Locken und den langen Beinen, wie Elke Sommer, hatte er ein ums andere Mal beteuert. Wie sie zusammen den Laden des Vaters übernommen und wie ihnen die Sturmflut im Jahr 1962 alles genommen hatte. Während er sprach, stand das Wasser in seinen verblassten Augen und May hatte ihm die kühle, von Altersflecken übersäte Hand getätschelt und dabei heimlich auf die Uhr geschielt.
Sie atmete erleichtert aus, als sie Hannas weißen Mini auf den Hof einbiegen sah. Im Licht der Scheinwerfer tanzten die Mücken. Sie beobachtete, wie der große, schlaksige Lars sich aus dem kleinen Auto herausfaltete und erst einmal streckte. Paul sprang hinterher und begab sich sogleich schnüffelnd auf Entdeckertour. Dann stieg Hanna aus und klappte die Lehne ihres Sitzes nach vorn, damit auch Fatih herausklettern konnte. May freute sich, ihn zu sehen. Sie hatte ihn vor ein paar Monaten flüchtig kennengelernt und gleich gemocht.
Sie öffnete die Haustür. »Kommt rein«, sagte sie zu Lars und Fatih.
Hanna hob grüßend die Hand. Sie hatte sich noch rasch eine Zigarette angezündet, von der sie hastig einige Züge nahm. Dann warf sie sie auf den Boden und trat sie aus.
Kurz darauf saßen alle in Theos Küche. Die Neuankömmlinge waren noch im Dönerladen von Fatihs Mutter vorbeigefahren und hatten Proviant für die Nachtwache besorgt. Es duftete nach geröstetem Fleisch und Knoblauch. May machte sich an der Espressomaschine zu schaffen. Schweigend stellte sie jedem eine Tasse hin. Ihnen allen war klar, dass sie hellwach bleiben sollten.
»Schickes Bild«, sagte Fatih zu Lilly. Auch er hatte durchaus einen Hang zum Morbiden.
»Und jetzt?«, fragte May.
»Woran war Theo denn zuletzt dran?«, wollte Lars von Hanna wissen.
»Ich glaube, er
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