In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
aus operierte. Und das scheinbar leer stehende Haus schien daher keine schlechte Operationsbasis für den Mörder zu sein.
Im Rückspiegel beobachtete sie, wie Henry leise das Gartentor öffnete und den Weg zum Eingang hinüberlief. Einmal mehr fiel ihr auf, wie geschmeidig er sich trotz seiner Körperfülle bewegte.
Henry suchte nach einem Klingelknopf, fand aber nur einen metallenen Türklopfer in Form eines Fischs mit übergroßen Augen und aufgeplusterten Lippen. Während er wartete, hatte er das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Er blickte sich um und sah direkt in die Augen einer mächtigen getigerten Katze, die auf einem der gemauerten Torpfosten Platz genommen hatte. Sie starrte ihn unverwandt an. Ihre Augen leuchteten im Licht der Straßenlaterne. Er schrak zusammen, als sich die Tür vor ihm plötzlich öffnete und sich zwei weitere Katzen zwischen seinen Beinen ins Freie drängten.
»Ja bitte?«, sagte die kleine Person vor ihm. Zunächst glaubte er, ein Kind vor sich zu haben. Dann erkannte er, dass die junge Frau vor ihm kleinwüchsig war. Ihr Scheitel reichte gerade bis zu seiner Hüfte. Ihre Beine und Arme waren für ihren übrigen Körper zu kurz, der Kopf zu groß. Er widerstand dem Impuls, sich vor sie hinzuhocken, wie er es bei Kindern machte, um mit ihnen auf Augenhöhe sprechen zu können. Er wusste, dass er mit seinen massiven ein Meter vierundneunzig selbst Erwachsene häufig einschüchterte. Manchmal war das von Vorteil. Häufig aber auch nicht.
Er setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. »Hendrik Sibelius«, sagte er, »ich bin von der Polizei.«
»Tatsächlich?« Die kleine Frau vor ihm wirkte unbeeindruckt. Sie war es gewohnt, dass Menschen sie weit überragten. Auf ein paar Zentimeter mehr oder weniger kam es da nicht an.
»Möchten Sie vielleicht hereinkommen?« Sie hatte schönes Haar in einem dunklen Goldton, das sie zu einem losen Knoten geschlungen trug. Ihre Augen waren groß, dunkelgrau und von langen Wimpern umgeben. Sie blickte ihn ruhig an, ihn, den Polizisten, der um 23 Uhr an ihrer Tür stand.
Henry erspähte im Hintergrund zwei weitere Katzen im Flur, die sich ausgiebig putzten.
»Besser nicht«, sagte er, »ich bin Katzenhaarallergiker.«
»Dann ist das in der Tat keine so gute Idee. Ich habe nämlich fünf von den Biestern.« Sie lächelte.
»Es geht auch ganz schnell. Frau …«
»… Evi Liebermann.«
»Kennen Sie Ihre Nachbarn, die aus dem Haus mit den heruntergelassenen Jalousien?«
»Ruth und Jürgen? Aber sicher.«
»Sind sie verreist?«
Sie nickte. »Schon seit ein paar Wochen. Sie haben ein Haus, irgendwo an der Nordsee. Amrum, glaube ich.« Mit einer Handbewegung scheuchte sie eine der Katzen fort, die näher gekommen war und sich an ihre Beine schmiegen wollte. »Seit Jürgen in Rente ist, verbringen sie dort viel Zeit.«
»Haben Sie vielleicht hier jemanden in letzter Zeit ein- und ausgehen sehen?«
»Sicher. Sylvia hütet dann immer das Haus. Ruth war früher ihre Tagesmutter und irgendwie sind die beiden wohl immer in Kontakt geblieben.«
»Sie meinen, sie schaut dann nicht nur nach dem Rechten, sondern sie wohnt dann hier?«
»Ich glaube schon. Jedenfalls teilweise.«
»Aber es sieht so unbewohnt aus.«
Evi Liebermann zuckte mit den Achseln. »Ist ihr offenbar lieber so. Sie ist ein bisschen verschroben.«
Ein bisschen ist gut, dachte Henry. Sylvia Kuhn hatte zweifellos einen gewaltigen Hau.
»Haben Sie sie heute zufällig schon gesehen? Vielleicht sogar in Begleitung?«
Evi biss sich auf die Unterlippe. Henry wunderte sich, dass sie keine Fragen stellte, nicht wissen wollte, warum ihn all das interessierte, wie die meisten Menschen es getan hätten.
Vom Wagen aus beobachtete Hadice das Gespräch zunehmend nervös. Henry stand im Lichtschein, der aus der geöffneten Tür fiel, wie auf einem Präsentierteller. Und Sylvia hätte ihn lange genug gesehen haben können, um ihn wiederzuerkennen. Hadice fluchte leise. Und warf einen nervösen Blick auf das Haus, in dem sie Sylvia vermuteten. Es wirkte nach wie vor dunkel und still. Hadice fand, es sah aus, als lauere es auf jemanden.
Henry horchte auf, als Evi sagte: »Da war tatsächlich heute jemand. Irgendwann am späten Nachmittag. Ich habe nämlich die Hecke im Vorgarten geschnitten.« Vor Henrys Augen erschien kurz das Bild der winzigen Evi Liebermann mit einer großen ratternden Heckenschere.
Hadice seufzte erleichtert, als sie sah, wie Henry sich verabschiedete und den
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