In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
eine Hand auf ihrer Schulter spürte.
»Sanna«, sagte ihre Mutter.
Sie wusste, dass sie sich Sorgen machte. Dabei gab es dafür nicht den geringsten Anlass. Sie hatte sich nie besser gefühlt als in diesen Tagen. Alles schien von ihr abzufallen. Alle Ängste, alle Verzweiflung, aller Kummer, alle Mühsal. Erst jetzt hatte sie begriffen, dass sie um nichts zu kämpfen brauchte. Nicht um die Anerkennung ihres Vaters, nicht um die Liebe ihrer Mutter. Und auch nicht gegen die eigenen physischen Grenzen. In den letzten Jahren hatte sie ihren Körper zu immer neuen Höchstleistungen getrieben, immer höher die Beine in der Arabesque gestreckt, die komplizierten Sprünge, die dreifache Pirouette so lange geübt, bis für einige Momente das rauschhafte Gefühl zu fliegen wieder über sie gekommen war. In diesen Augenblicken hatte sie gewusst, dass sie perfekt war.
Es hatte ihr nichts ausgemacht, dieses Glück mit niemandem teilen zu können, sie brauchte schon lange keine Lehrerin mehr, die sie lobte, und kein Publikum, das sie bewunderte. Allein das Bewusstsein ihres Könnens war ihr genug. In den ersten Jahren hatte ihre Mutter ihr noch zugeschaut, bis sie sie weggeschickt hatte, weil sie ihren verzweifelten Blick nicht mehr ertragen hatte. »Sie sieht aus wie ein tanzendes Skelett«, hatte sie ihre Mutter einmal zu ihrem Vater sagen hören. Aber da hatte ihr das schon nichts mehr ausgemacht.
Sie wusste, dass alle anderen sie zu dünn fanden. Aber selbst jetzt, wo auch die letzten Muskeln unter ihrer papierdünnen Haut dahinschmolzen, fand sie sich noch schön. Sie betrachtete sich gern im Spiegel im Bad. Ließ die Hände über die Rippen gleiten, die deutlich sichtbar das schlagende Herz umspannten. Arme und Beine waren inzwischen so schmal, dass die Gelenke sich von ihnen abhoben, der Bauch wölbte sich nach innen – das gefiel ihr. Besonders mochte sie ihre Schulterblätter, die nun deutlich hervortraten – zart wie Elfenflügel.
Sie verstand die Aufregung nicht, die ihr Zustand zu verursachen schien. Nicht die Bemühungen der Psychologen, nicht die Notwendigkeit der quälenden Zwangsernährung, von der sie wusste, dass sie den Prozess der Transformation, in dem sie sich befand, nur verzögerte, aber nicht aufhalten würde. Und auch die Schmerzen, die sie bekam, weil die Knochen beim Sitzen und sogar beim Liegen von innen auf die Schmerzleiter der Haut drückten, waren bedeutungslos geworden.
Schon gleich zu Beginn dieses letzten Klinikaufenthaltes hatte man ihr das Tanzen verboten. Im Gegensatz zu früheren Einweisungen hatte ihr das nichts mehr ausgemacht. Sie brauchte nicht einmal mehr den Tanz. Die Musik und die Bewegungen waren in ihrem Kopf gespeichert. Sie tanzte jetzt im Geist, schraubte sich in Pirouetten immer höher bis zu den Sternen. Alles schien von ihr abzufallen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich vollkommen frei. Sie empfand tiefen Frieden.
Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf die vollkommene Rose, die in einer Glasvase vor dem Fenster stand. Im Sonnenlicht schienen die samtigen Blätter von innen zu leuchten. Carlotta hatte sie ihr bei ihrem letzten Besuch am Vortag mitgebracht. Seit ihre kleine Schwester fortgezogen war, kam sie nur noch selten. Dabei achtete sie darauf, den Eltern nicht zu begegnen. Lange hatte es Sanna bekümmert, dass das Verhältnis zwischen Carlotta und den Eltern so angespannt war. Sie hatte versucht, zwischen ihnen zu vermitteln, Carlotta klarzumachen, dass ihr Zustand ein selbst gewählter war und nichts mit dem Verhalten der Eltern zu tun hatte. Aber Carlotta war schon immer ein Dickschädel gewesen.
Ihre Mutter strich ihr vorsichtig über den Arm. Hier war ihr ein flaumiger Pelz gewachsen. Ihr Arzt hatte ihr erklärt, dass dies ein Symptom ihrer Krankheit war. Es war ihr egal. Sie fand den weichen Flaum eigentlich sehr hübsch. Lächelnd legte sie ihre Hand auf die ihrer Mutter und blickte zu ihr auf. »Mach dir keine Sorgen, Mama. Mir geht es gut.«
KAPITEL 28
Als die beiden Polizisten zu dem Haus mit den geschlossenen Jalousien gingen, hatte der Mann bereits zwanzig Minuten auf den Eingang gestarrt und versucht, sich zu einem Entschluss durchzuringen. Er saß verborgen im Schatten eines zu einer akkuraten Kugel zurechtgestutzten Buchsbaums. Die hermetisch geschlossenen Fenster sprachen dafür, dass die Bewohner verreist waren. Aber genau wissen konnte man das natürlich nicht. Andererseits brauchte er dringend einen Schuss. Als der
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