In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
hat sich auf Sanna eingeschossen. Wir haben versucht herauszukriegen, was aus ihr geworden ist. Aber das war nicht so leicht. Offenbar ist sie schon vor vielen Jahren mit ihren Eltern ausgewandert.«
Hanna wölbte die Hände um ihre Espressotasse, als müsste sie sich trotz der lauen Nacht wärmen. »Lars, weißt du nicht ein bisschen mehr darüber?«
Er hob bedauernd die Hände. »Das war vor meiner Zeit. Ich bin erst in der Oberstufe dazugekommen. Sanna habe ich nie kennengelernt.«
»Aber warum hat Theo sich ausgerechnet an ihr festgebissen?« May schaute Hanna an.
»Ich weiß es auch nicht. Er hat nur gesagt, er habe das Gefühl, dass alles mit Sanna zusammenhängt. Wahrscheinlich, weil ihn die schlimme Geschichte von damals so beeindruckt hat.«
»Welche schlimme Geschichte?«, wollte Lilly wissen, die das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte.
»Nathalie hat ihren größten Traum zerstört. Weißt du, Sanna wollte Balletttänzerin werden und hatte schon einen Termin für ein Probetanzen bei John Neumeier. Das ist ein ziemlich berühmter Ballettmeister hier in Hamburg.«
»Und diese Nathalie hat es ihr versaut?«, fragte Fatih.
»Sie hat sie im Geräteraum der Turnhalle eingesperrt, sodass sie den Termin verpasst hat. Danach hatte sie einen Nervenzusammenbruch, soweit ich das verstanden habe.«
»Das ist wirklich bitter«, sagte Fatih.
»Ziemlich«, sagte Lilly. »Wenn mir jemand versaut, dass ich Ärztin werden kann, würde ich den auch umbringen.«
Hanna sah das kleine Mädchen verblüfft an. Zwischen Lillys Augen hatte sich eine feine Zornesfalte gegraben. Hanna schauderte. Irgendwie war sie plötzlich davon überzeugt, dass das Kind ganz genau meinte, was es da sagte. Sie erhob sich. »Wartet mal, ich hol kurz was.«
Sie ging hinüber in den angrenzenden Wohnbereich und sah sich suchend um. In den hohen Bücherregalen, die eine Wand vollständig ausfüllten, entdeckte sie die Kiste mit Theos alten Fotos, die sie am Vormittag gemeinsam durchgesehen hatten. Das war erst Stunden her und ihr kam es jetzt wie Tage vor.
Sie zog die Schachtel heraus und trug sie hinüber zum Küchentisch.
»Was ist das?«, fragte Lilly neugierig.
»Alte Fotos von Theo.«
»Kann ich mal sehen?« Lilly streckte bittend die Hand aus.
»Moment.« Hanna blätterte sie rasch durch. Sie fand die gesuchten Bilder und zog sie hervor. »Hier, das in der Mitte ist Sanna.«
Lars schaute ihr über die Schulter. »Die beiden anderen sind Benno und Sylvia.«
»Unsere drei Hauptverdächtigen«, sagte Hanna.
May griff nach dem Foto und betrachtete es stirnrunzelnd. Während Sylvia herausfordernd in die Kamera schaute, hatte Benno seinen Blick auf Sanna gerichtet. Der Schnappschuss hatte die Sehnsucht in seinen Augen festgehalten. Der hat dich geliebt, meine Süße, dachte May im Stillen. Sanna hingegen, mit ihren schwarzen Locken und den runden Wangen, sah so aus, als würde sie auf etwas blicken, das nur sie allein sehen konnte. Und Hanna, die das Bild gemeinsam mit May anschaute, kam der Gedanke, dass sie, wenn sie damals vor vielen Jahren ihre ungewollte Schwangerschaft nicht abgebrochen hätte, jetzt eine Tochter haben könnte, die so aussehen würde wie Sanna auf diesem Bild aus dem Sommer Anfang der Neunzigerjahre.
»Ist sie nicht ein bisschen mollig für eine Primaballerina?«, fragte May.
»Soweit ich weiß, hat sie später ziemlich abgenommen«, sagte Hanna.
Damals
Ihre Hände ruhten locker auf den Lehnen des Sessels. Die filigranen Finger schimmerten bläulich. Sie bewunderte die zarten Adern, die sich unter der Haut abzeichneten. Unaufhörlich strömte das Blut durch sie hindurch, versorgte jede Zelle mit Sauerstoff und Nährstoffen, ohne dass es sie die geringste Mühe kostete. Sie streckte die Hände vor sich und drehte die Handflächen nach oben und nach unten. Staunte über das perfekte Zusammenspiel von Anweisungen des Gehirns, Nervenreizen und Muskulatur. Die Choreografie der simplen Bewegungen erschien ihr unendlich wunderbar. Keine Maschine, die der Mensch bisher ersonnen hatte, konnte sich so mühelos, so anmutig bewegen. In der Luft spielte sie auf einem unsichtbaren Klavier eine Etüde von Chopin. Sie schloss die Augen und ließ den Klang im Inneren ihres Kopfes entstehen. Wie oft hatte sie dazu ihre Exercises absolviert? Unzählige Male. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken. Ihre früher so unerschöpflich wirkende Kraft neigte sich dem Ende zu. Sie war unendlich müde.
Sie schrak zusammen, als sie
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