In sündiger Silvesternacht
würde.
Er wollte glauben, dass es besser so wäre. Bevor sie auftauchte, hatte er alles im Griff gehabt. Und sobald sie fort wäre, würden sich die Dinge wieder ordnen. Alles würde so sein wie vorher.
Aber sie hatte erraten, dass er selbst Auto gefahren war, um sie zu sehen.
Er hatte sich gestern für einige Stunden Trevors Wagen geliehen und heute morgen wieder, um sich zu zwingen, mit seinen Ängsten fertig zu werden. Die Schweißausbrüche und das flache Atmen abzuwarten, bis er in der Lage war, ins Auto zu steigen und die Hände aufs Lenkrad zu legen, ohne dabei seine ihn anflehende Schwester zu hören.
Er stellte Trevors Auto auf dem Parkplatz hinter dem Pub ab und gab den Schlüssel in der Bar ab. Dann ging er den Strand entlang nach Hause.
In den vergangenen sechs Monaten hatte er sich zu einem wahren Meister der Verdrängung entwickelt, doch es war unmöglich zu vergessen, was Elizabeth im Krankenhaus zu ihm gesagt hatte.
Dass er sich selbst bestrafen wollte.
Dass er sich die Schuld an Olivias Tod gab.
Dass er glaubte, es nicht verdient zu haben, glücklich zu sein.
Er wollte das alles als Geschwafel aus psychologischen Ratgebern abtun, aber tief in seinem Innern hatten ihre Worte eine Saite zum Klingen gebracht.
Dennoch war es seine Schuld, dass Olivia tot war. Er war gefahren. Ihr Schicksal – ihr Leben – hatte in seinen Händen gelegen. Und er hatte versagt.
Sie war nicht mehr da. Seine kleine Schwester.
Er hingegen hatte nicht einmal eine kleine Narbe von dem Unfall zurückbehalten, nachdem die Prellungen verschwunden und die Schwellungen abgeklungen waren. Er verfügte immer noch über seinen Wohlstand, seine Gesundheit, sein Leben. Über alles.
Die Sonne brannte, als Nathan vom Strand in die Straße zu seinem Haus einbog. Er wusste, dass Bier im Kühlschrank lag und Wodka im Gefrierfach. Er konnte sich mit Alkohol betäuben. Zumindest, um die nächsten Tage zu überstehen, bis Elizabeth abgereist war. Danach würde wieder alles beim Alten sein. Die Tage. Die Bar. Die Nächte.
Er betrat das Haus durch die Hintertür. Das Blut in der Küche und im Badezimmer hatte er noch in der Nacht von Elizabeths Unfalls aufgewischt. Der Fleck auf dem Teppich im Flur war nicht ganz herausgegangen. Wenn er nach rechts blickte, könnte er die dunkle Stelle erkennen, wo Elizabeth zusammengebrochen war.
Nathan sah nicht hin. Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich damit an den Küchentisch, trank einen großen Schluck und starrte an die Wand.
Hätte Olivia gewollt, dass du so lebst, Nate?
Er hätte nie etwas mit Elizabeth anfangen dürfen. Er hätte sich niemals auf sie einlassen sollen. Er hätte niemals Trost und Zuspruch in ihren Armen suchen dürfen.
Hätte Olivia gewollt, dass du so lebst, Nate?
Er knallte die Flasche so heftig auf den Tisch, dass das Bier überschäumte. Fluchend stand er auf und ging wieder zum Kühlschrank. Klar, etwas Stärkeres musste her. Bier allein würde heute nicht ausreichen.
Er öffnete das Gefrierfach und starrte auf Eiscreme, Tiefkühlgemüse und Fleisch. Erst da erinnerte er sich daran, dass Elizabeth die Wodkaflasche in den Geschirrschrank verbannt hatte. Sie hatte behauptet, sie bräuchte den Platz im Gefrierfach, aber er wusste, dass es ein Teil ihrer Strategie war, ihn vom Trinken abzuhalten.
Nathan durchquerte die Küche und öffnete den Wandschrank. Er konnte die Wodkaflasche sehen, sie lag an der Rückwand, doch sein Blick wurde von einer Tüte mit pinkfarbenen und weißen Marshmallows angezogen, die vorn stand. Ein kleiner Haftnotizzettel klebte daran, voll beschrieben mit Elizabeths altmodisch geschwungener Handschrift: Denk nicht einmal daran, diese ohne mich zu vertilgen!!!
Es traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube.
Er würde Elizabeth nie wiedersehen. Mit seinen heutigen Worten und Taten hatte er das erreicht. Nie mehr würde es ihr Lachen, ihre spöttischen Blicke und ihre besonnene Bestimmtheit geben. Nie mehr würde er ihre seidige Haut berühren oder ihre Küsse schmecken oder das warme, helle Licht in ihren Augen sehen. Niemals mehr würde er einen Raum betreten, ihr Parfum riechen und wissen, dass sie in der Nähe war. Es wäre so, als ob sie in jener Nacht in dem blutbefleckten Flur gestorben wäre. Sie würde nur noch eine Erinnerung sein.
Aber sie war nicht wirklich tot. Sie würde in London sein und ihr Leben leben. Ihre Bräune würde verblassen, so wie die Erinnerungen an ihn. Irgendwann würde sie sich in
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