In sündiger Silvesternacht
kommst“, sagte Martin lächelnd.
Er stand auf und ging zu ihr, um sie zu küssen. Wie immer war er tadellos gekleidet. Der maßgeschneiderte dreiteilige Anzug und die gestreifte Seidenkrawatte saßen perfekt, das dunkle Haar war sorgfältig gescheitelt.
Anstatt ihm ihre Wangen zum Kuss zu bieten, hielt sie ihm die Urkunde hin.
„Schau mal. Da ist ein Fehler. Man hat einen falschen Namen für meinen Vater auf der Geburtsurkunde eingetragen.“
Einen Sekundenbruchteil lang verharrte Martin regungslos. Dann warf er ihrem Großvater einen kurzen, unergründlichen Blick zu, bevor er sich das Papier ansah.
„Ich hatte angenommen, du würdest mir das Dokument direkt ins Büro schicken lassen“, meinte er ruhig, aber in seinem Ton lag unterschwellige Spannung.
Elizabeth musterte erst ihn, dann das ausdruckslose Gesicht ihres Großvaters – und begriff.
Es war kein Irrtum.
„Was ist los?“ Ihre Stimme klang fremd, unsicher und fast schrill.
„Setz dich doch bitte, Elizabeth“, bat ihr Großvater sie.
Sie ließ sich zu einem der schwarzen Ledersessel vor dem gewaltigen Mahagonischreibtisch führen. Ihr Großvater wartete, bis Martin sich in den anderen Sessel gesetzt hatte, bevor er zu sprechen begann.
„Leider ist es kein Fehler. Der Mann, den du als deinen Vater kanntest, John Mason, war in Wahrheit dein Stiefvater. Er hat deine Mutter geheiratet, als du zwei Jahre alt warst.“
Einen Moment lang war nur das Ticken der Uhr zu hören. Elizabeth war sprachlos.
Nach dem Tod ihrer Eltern, mit sieben, war sie am Boden zerstört gewesen. Während der ersten Monate, die sie bei ihren Großeltern gewohnt hatte, hatte sie sich jede Nacht in den Schlaf geweint. Sie hing an den kleinen Andenken an ihre Kindheit: dem Steiff-Teddy, den ihre Eltern ihr zum vierten Geburtstag geschenkt hatten, den Fossilien, die sie bei einem gemeinsamen Ausflug gefunden hatten, der leeren Parfumflasche, die einst den Lieblingsduft ihrer Mutter enthalten hatte.
Doch nun erfuhr sie von ihrem Großvater, dass ihre Eltern nicht beide tot waren, sondern dass es ihr Stiefvater war, der zusammen mit ihrer Mutter gestorben war. Ihr richtiger Vater – der Mann, der auf ihrer Geburtsurkunde eingetragen war – lebte vielleicht noch.
„Warum habt ihr mir das nie erzählt?“
„Weil es nicht notwendig war. Ich will nicht ins Detail gehen, aber Sam Blackwell ist kein Mann, den wir uns in deinem Leben wünschen. John Mason war in jeder anderen Hinsicht dein Vater, deshalb sahen wir keinen Sinn darin, etwas auszugraben, das am besten für immer vergessen bleiben sollte“, erklärte ihr Großvater.
Seine Rede enthielt so viele Annahmen, so viele Urteile. Alle Entscheidungen waren über ihren Kopf hinweg getroffen worden.
Elizabeth ballte die Hände zu Fäusten. „Lebt er noch? Mein richtiger Vater?“
„Ich glaube, ja.“
Sie beugte sich vor. „Wo? Was macht er? Wohnt er in London? Wie kann ich mit ihm in Kontakt treten?“
„Elizabeth, ich weiß, dass dies ein Schock für dich ist, doch wenn du erst einmal in Ruhe über alles nachgedacht hast, wirst du mir sicher zustimmen, dass dein Leben sich dadurch nicht wesentlich verändert“, warf Martin ein.
Fassungslos drehte sie sich zu ihm um. „Du hast es gewusst!“
„Dein Großvater hat es mir anvertraut, nachdem ich um deine Hand angehalten hatte.“
„Du weißt es seit sechs Monaten und hast mir nichts gesagt?“
„Sei Martin nicht böse. Ich hatte ihn darum gebeten, Stillschweigen zu bewahren. Ich hielt es für unnötig, dich wegen nichts in Aufregung zu versetzen“, erwiderte ihr Großvater.
Wegen nichts? Nichts?
„Ich bin dreißig Jahre alt. Ich brauche nicht beschützt zu werden. Ich verdiene es, die Wahrheit zu erfahren. Und dass mein Vater noch am Leben ist, ist nicht nichts. Ganz im Gegenteil!“
Martin bewegte sich sichtlich unbehaglich in seinem Sessel. Ihr Großvater legte die Hände flach auf den Schreibtisch und musterte Elizabeth mit stetem Blick.
„Wir haben getan, was wir für das Beste hielten.“
Dies wäre normalerweise der Punkt, an dem sie klein beigeben würde. Ihre Großeltern hatten sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen und alles getan, um ihr eine glückliche Kindheit zu bieten. Sie hatten sie auf die besten Schulen geschickt, jede Schüleraufführung und jeden Elternabend besucht, waren in den Ferien mit ihr nach Frankreich und Italien geflogen – trotz der Herzschwäche und zarten Konstitution ihrer Großmutter. Elizabeth war
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