In sündiger Silvesternacht
Armut und den Opfern, die seine alleinerziehende Mutter aus der Arbeiterschicht hatte bringen müssen, um ihn auf die Universität schicken zu können. Das Leben mit ihr, Elizabeth, als seiner Ehefrau wäre die Erfüllung all seiner Bestrebungen. Die hoch bezahlte Stellung in einer renommierten Anwaltskanzlei, eine Frau aus gutem Hause, der Urlaub an der französischen oder italienischen Riviera, die Mitgliedschaft in all den richtigen Herrenklubs.
„Wir können nicht heiraten, Martin. Du weißt nicht, wer ich bin“, sagte sie leise. „Wie könntest du auch? Ich weiß es ja nicht einmal selbst.“
Sie drehte sich um und ging.
„Elizabeth. Können wir nicht wenigstens in Ruhe darüber reden?“
Sie ging einfach weiter. Ihre Großeltern würden außer sich sein, wenn sie hörten, dass sie die Hochzeit abgesagt hatte. Sie würden mit allen Tricks versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. Und sie war so daran gewöhnt, sich zu fügen, dass sie fürchterliche Angst hatte, am Ende doch noch auf sie zu hören und Martin zu heiraten. Sie sah sich schon all die teuren Haushaltswaren von Harrods in ihrem ehelichen Heim auspacken.
Sie brauchte Zeit für sich. Zum Nachdenken. Um alles zu verarbeiten. Irgendwo, wo sie ihre Ruhe hatte. Sie dachte an Violets Apartment über deren Geschäft und verwarf den Gedanken sogleich wieder. In Violets hektischer Welt würde sie kaum Ruhe und Frieden finden. Außerdem würden ihre Großeltern sie dort zuerst suchen. Dann erinnerte sie sich daran, was sie zu Martin gesagt hatte – Ich weiß ja nicht einmal selbst, wer ich bin –, und wusste, was sie zu tun hatte.
Sie würde zu ihrem Vater gehen. Wo immer er stecken mochte. Sie würde ihn aufspüren, mit ihm reden und bei der Gelegenheit herausfinden, wer Elizabeth Jane Mason wirklich war und was sie wollte.
Vier Tage später ließ Elizabeth die Scheibe ihres Mietwagens herunter und atmete gierig die frische Luft ein. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Sie war nun schon beinahe dreißig Stunden um die halbe Welt gereist. Jetzt rauschte die fremdartige Gestrüpplandschaft Australiens an ihr vorbei, während sie von Melbourne Richtung Südwesten nach Phillip Island fuhr, einer kleinen Insel in der Western Port Bay.
Während der vergangenen Tage hatte sie sich in einem Hotelzimmer in Soho verkrochen, bis Violet über einen Cousin bei der Polizei in Erfahrung gebracht hatte, dass Sam Blackwell sich auf Phillip Island im australischen Bundesstaat Victoria aufhalten sollte. Daraufhin hatte Elizabeth sofort ein Zimmer in einem Hotel vor Ort gebucht und sich ins Flugzeug gesetzt.
Mit ihren Großeltern hatte sie nur kurz telefoniert, um ihnen zu versichern, dass es ihr gut ging, und sie zu bitten, ihre Entschluss, die Hochzeit abzusagen, zu verstehen. Ihr Großvater hatte natürlich versucht, sie umzustimmen, doch sie hatte das Gespräch abgebrochen.
Künftig würde sie sich von niemandem mehr in ihre Entscheidungen hineinreden lassen.
Vor ihr tauchte die San Remo Bridge auf. Elizabeth überquerte einen breiten Streifen Wasser, dann war sie endlich auf der Insel. Der Gedanke, ihren Vater zu treffen, zum ersten Mal in sein Gesicht zu sehen und vielleicht eine Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden zu entdecken, verscheuchte ihre Müdigkeit.
Sie konnte nicht sagen, was sie sich von dieser Begegnung versprach. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit? Näheres über ihre Herkunft? Einen Ersatz für die Eltern, die sie so früh verloren hatte?
In Wahrheit konnte sie sich kaum an ihre Mutter und ihren Vater – beziehungsweise den Mann, den sie als ihren Vater kannte – erinnern. Ihre Mutter war ihr als stets ein wenig traurig, ihr Stiefvater als zurückhaltend im Gedächtnis geblieben. Dennoch hatte der Verlust ihrer Eltern eine Lücke in ihr Leben gerissen, die ihre Großeltern bei aller liebevollen und umsichtigen Fürsorge nicht hatten füllen können.
Elizabeth umklammerte das Lenkrad fester und sprach sich in Gedanken Mut zu, als sie in die von Bäumen umsäumte Hauptstraße von Cowes einbog, dem größten Ort auf der Insel. Es war sehr gut möglich, dass ihr Vater gar nichts von ihrer Existenz wusste. Deshalb sollte sie ihre Erwartungen an die erste Begegnung nicht zu hoch schrauben, sondern realistisch sein. Sie waren Fremde. Obwohl sie dieselbe DNS hatten, war das noch lange kein Grund zu glauben, dass sie spontan eine besondere Verbindung zueinander spüren würden.
Trotzdem zog sich ihr Magen vor Nervosität zusammen, als sie um die
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