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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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–«
    »Können wir einfach aufhören, über meinen verdammten Vater zu sprechen?« Seine Stimme war lauter und zorniger als beabsichtigt. Brüskiert verstummte sie und starrte auf den kleinen Schrein in der Ecke, wo ein fetter grinsender Buddha vor einer flackernden Kerze und einem kleinen Gabenteller mit Essen hockte.
    »Weißt du«, sagte er und nahm sein Handy aus der Jackentasche, um zu sehen, wie spät es war, »ich glaube, ich sollte gehen.« Seine Hand zitterte, als er es wieder einsteckte. Er fragte sich, ob sie es bemerkt hatte, und wich ihrem Blick aus, weil er die Enttäuschung in ihren Augen nicht sehen wollte.
    Er wusste, dass Abhauen die Taktik von Feiglingen war, aber er war nervös und wollte unbedingt weg. Die Erwähnung seines Vaters sorgte dafür, dass sich der Baldachin seiner Depression, der ständig über seinem Kopf schwebte, ein wenig weiter senkte, um ihn einzuhüllen. Inzwischen kannte er die Warnzeichen – die Unruhe, das vage Gefühl von Enge und die Angst, die ihn zu überkommen drohte. Die Depression war kurz davor, ihm wie ein Entführer einen Sack über den Kopf zu stülpen, und die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, war, so schnell wie möglich den Ort zu wechseln – irgendwo hinzugehen, wo sie ihn nicht zu fassen kriegte. Die Gesellschaft anderer Menschen machte es oft noch schlimmer. Er hatte ein plötzliches Verlangen, allein zu sein.
    »Lee«, sagte sie und schob ihren Teller beiseite, »ich dachte, es wäre vielleicht ganz gut, wenn wir irgendwann mal miteinander redeten – ich meine, über uns.«
    »Denkst du da an etwas Bestimmtes?«
    »Nein«, antwortete sie, doch er wusste, dass sie log. Ihre Körpersprache stimmte einfach damit überein – ein schnelles Flattern der Augenlider, gefolgt von einem leichten Senken des Kinns, das noch immer vom Fett der Teigtaschen glänzte.
    »Kathy, ich –«, begann er, spürte in diesem Augenblick aber das Handy in seiner Tasche vibrieren. Er erkannte die Nummer nicht – es war eine Telefonvermittlung in Manhattan. »Macht es dir etwas aus, wenn ich da rangehe?«
    Sie schüttelte den Kopf, und er ging nach draußen, um den Anruf anzunehmen. Er hasste es, wenn Leute in Restaurants mit dem Handy telefonierten.
    Die Doyers Street war menschenleer, bis auf einen alten Chinesen, der einen Wagen voll Gemüse über das Pflaster dieses verwinkelten Viertels schob. Vielleicht war er ein Restaurantbesitzer beim Sonntagabendeinkauf an einem der Dutzenden von Ständen, die die Haupt- und Nebenstraßen säumten. An diesen Ständen bekam man alles, vom billigen Aufziehspielzeug bis zum lebenden Hummer, und sie gehörten zu den Dingen, die Chinatown seine einzigartige Atmosphäre verliehen. Hier roch und duftete es anders als in jedem anderen Stadtviertel – der Geruch von Fisch, faulendem Gemüse und heißem Fett in Verbindung mit Gewürzen und Kräutern, Ingwer, Knoblauch und Ginseng. Es war ein verwirrender, herrlicher Sturmangriff auf die Sinne, genauso rätselhaft und komplex wie Chinatown selbst.
    Lee klappte sein Handy auf. »Hallo?«
    »Ist da Dr. Campbell?«, hauchte eine weibliche Stimme mit irischem Akzent.
    »Ja. Wer spricht da, bitte?«
    »Sie kennen mich nicht – ich heiße Flossie O’Carney.«
    Der Name kam ihm bekannt vor. Dann erinnerte er sich, wo er ihn schon einmal gehört hatte. »Doch, François Nugent hat von Ihnen gesprochen. Sie sind sein –«
    »Ich bin sein Kindermädchen. Ich hab Ihre Nummer aus seinem Schlafzimmer. Er hatte Ihre Karte auf seiner Kommode liegen.«
    »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Dr. Campbell, aber ich habe Angst, dass François – also, das heißt, ich befürchte, dass er etwas Schreckliches tun will.«
    »Und was?«
    »Das weiß ich noch nicht genau. Deswegen rufe ich Sie ja an, verstehen Sie?«
    Lee beobachtete, wie der alte Mann seinen Wagen mit Gemüse um die Ecke schob und in Richtung Mott Street ging.
    »Was glauben Sie denn, dass er tun könnte?«
    »Na ja, er war die letzten paar Tage wirklich sehr merkwürdig, hat Selbstgespräche geführt und ist in seinem Zimmer geblieben, immer bei abgeschlossener Tür. Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, kein bisschen. Der Tod seiner Schwester hat ihn furchtbar getroffen, wissen Sie.«
    »Das verstehe ich. Hat er Ihnen irgendetwas gesagt?«
    »Er macht diese seltsamen Bemerkungen über Rache und es demjenigen heimzuzahlen, der ihr das angetan hat. Aber es ist doch so, dass Sie gar nicht wirklich wissen,

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