In tiefster Dunkelheit
»Kann sie Ihre übermäßig hohen Erwartungen überhaupt erfüllen?«
War ja klar, dass er diesen Punkt anbringen musste, nicht wahr? »Sie ist der einzige Grund, warum wir überhaupt über Hinweise verfügen, denen wir nachgehen können.«
Vor Wut zuckte ein Muskel an seinem Kinn. In diesem Meeting ging es gar nicht um den Fall, nicht wirklich. Es ging darum, ob sie Jess loswerden und damit die Aufmerksamkeit der Presse von sich weglenken konnten.
Pratt lehnte sich vor, nahm eine Handvoll Notizen von seinem Tisch und blätterte sie durch. »Ich sagen Ihnen, womit ich mich herumschlagen muss, Dan. Zwei der Familien der vermissten Mädchen haben sich beschwert.« Er überflog seine Notizen. »Und das sind nur die, mit denen mein Assistent ohne meine Intervention nicht allein fertig wurde. Fünf Beschwerden von Familien, die Sie in Verbindung mit diesen Vermisstenfällen befragt haben, die letzte von einem Tim Porter.«
»Hat Mr Porter Ihnen auch gesagt, dass er eine Affäre mit einer Arbeitskollegin hat?« Dan versuchte vergebens, seine Wut zu unterdrücken.
»Hat diese Affäre etwas mit diesem Fall zu tun?«
»Das wird sich noch herausstellen müssen.« Höchstwahrscheinlich nicht, doch Vermutungen anzustellen war sinnlos.
»Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass wir bei diesen Ermittlungen nicht vorsichtig genug vorgehen können, da fünf Leben auf dem Spiel stehen. Die Öffentlichkeit beobachtet jeden unserer Schritte.«
Dans Temperament ging mit ihm durch. »Wenn das eine Warnung sein soll, müssen Sie sich schon ein bisschen genauer ausdrücken.«
»Unsere Freunde vom FBI sagen mir, dass Harris zu Alleingängen neigt. Sie missachtet gern die Regeln, und ihre Impulsivität hat dazu geführt, dass nun ein verabscheuungswürdiger Killer frei herumläuft.«
»Spears wäre ohnehin freigekommen. Sie hatten keine Beweise gegen ihn. Jess hat voreilig gehandelt, das stimmt, aber die Beweise, die sie fand, waren den Ermittlern zuvor nicht bekannt und daher für den Spears-Fall auch nicht von Belang gewesen. Sie hat dem Fall also nicht geschadet, denn der hat gar nicht existiert.«
»Soweit es die Presse betrifft«, gab Pratt zurück, »ist das irrelevant. Was bleibt, ist der Eindruck, dass ein Fehler gemacht wurde. Spears kam frei, und dafür will man eine Erklärung.«
»Man will einen Sündenbock«, korrigierte ihn Dan. »Und das ist Jess.« Zwanzig Jahre Hingabe an den Job, um jetzt über die Klinge zu springen. Respekt und Loyalität konnten mit der öffentlichen Meinung nicht konkurrieren.
»Auch an mich persönlich haben sich Eltern gewandt, um mir ihre Sorge Harris betreffend mitzuteilen.«
»Jess«, sagte Dan herausfordernd. »Ihr Name ist Jess.«
Pratt ließ diese Anmerkung unkommentiert.
»Auch wenn Andrea rechtlich und biologisch gesehen nicht meine Tochter ist«, sagte Dan im Hinblick auf die Beschwerden, die Pratt aufgezählt hatte, »bin ich dankbar für jede Hilfe, um sie zu finden. Welche Eltern würden die Vorgehensweise einer der besten Fallanalytikerinnen infrage stellen, die das FBI je das Glück hatte zu beschäftigen?«
»Es war Annette, Dan. Sie ist in großer Sorge, dass deine frühere Beziehung mit Agent Harris dich daran hindert, in dieser Sache völlig objektiv zu sein.«
Die Empörung, die er bisher noch halbwegs erfolgreich gezügelt hatte, loderte nun jäh in ihm auf. »Anette war bei Ihnen und hat das gesagt.« Dan konnte es nicht fassen.
»Sie und ihr Mann, ja.«
»Hat sie diese Behauptung aufgestellt oder er?« Dan packte die Lehnen des Stuhls, als könnte er sich erden. Dentons Dreistigkeit überraschte ihn nicht. Er würde alles tun, damit Dan schlecht dastand, selbst wenn es seiner eigenen Tochter zum Schaden gereichte. Aber Annette? Warum sollte sie etwas so Gedankenloses und völlig Leichtsinniges tun, wenn das Leben ihrer Tochter auf dem Spiel stand?
»Sie beide waren hier«, gab Pratt zurück, »und saßen genau da, wo Sie jetzt sitzen. Wer was gesagt hat, ist irrelevant. Der Konsens lautet, dass Jess Harris ein Element ist, das dieser Fall nicht gebrauchen kann.« Bevor Dan widersprechen konnte, fügte Pratt hinzu: »Dies ist der hochkarätigste Fall, mit dem Ihr Department zu tun hatte, seit Sie zum Polizeichef berufen wurden. Was muss ich sagen, um Ihnen die Konsequenzen vor Augen zu führen, mit denen wir beide zu rechnen haben? Die Bürger von Birmingham haben Sie im Visier. Sie dürfen jetzt keinen Fehler machen, Dan. Dass Ihre frühere Stieftochter
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