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In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition)

In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Titel: In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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Brüder tagtäglich ausgesetzt sind … Wißt Ihr, daß der Begriff
marrane
, den wir im Languedoc zu einem Ehrentitel gemacht haben, ursprünglich ein Schimpfwort war, sich von einem alten iberischen Wort herleitet und Schwein bedeutet? Und wißt Ihr, daß unsere Schinder uns manchmal höhnisch
Los Alboraycos
nennen, in Anspielung auf Mohammeds berühmtes Streitpferd
El Burak
, das weder männlich noch weiblich war, womit sie sagen wollen, daß wirnicht Fisch und nicht Fleisch seien, nicht Christen und nicht Juden … Pierre, unsere hebräischen Brüder, die in ihren Ghettos in Frankreich den Glauben bewahren konnten, nennen uns in unserer Sprache
anusim
: die Gezwungenen. Ach Pierre! Gibt es schlimmere Ungerechtigkeit als mit Gewalt genötigt zu werden, in der Lüge zu leben, und es sich dann vorhalten lassen zu müssen von jenen, die die Gewalt üben?«
    »Diese Schandtaten rufen nach Rache«, sagte ich, »und ich bin gewiß, daß die Übeltäter ihre Strafe erhalten werden, wenn nicht in dieser Welt, dann in der anderen. Aber Ihr habt mir nicht erzählt, Luc, wie und warum Ihr den Glauben gewechselt habt.«
    Luc sah mich lange an, dann sagte er:
    »Ich zögere, es Euch zu erzählen, weil ich fürchte, Euch damit zu verletzen.«
    »Nein, Luc, Ihr könnt mich nicht verletzen, denn Ihr seid frei von böser Absicht. Sprecht bitte.«
    »Nun gut«, sprach er mit trauriger Miene, »ich bitte Euch im voraus um Vergebung. Aber nicht genug damit, daß manche Neuchristen, die insgeheim den Glauben schmähen, zu dem sie sich öffentlich bekennen, die Göttlichkeit Christi in Abrede stellen – heimlich spotten sie seiner sogar, nennen ihn hohnvoll den
kleinen Gehenkten
oder malen ein Kreuz auf ihren Schemel, um dann sagen zu können, daß sie sich mit dem Hintern draufsetzen: schändliche Praktiken, die mein Vater verdammt. Doch auch er bekreuzigt sich nicht und läßt am Ende des benedicite den Namen des Sohnes fort.«
    »Ja, dieses Vergessen ist mir aufgefallen.«
    »Es ist kein Vergessen, Pierre, und ich erzähle Euch das, damit Ihr begreift, daß ich in dieser stillschweigenden Ablehnung Christi erzogen wurde. Im großen Saal dieses Hauses seht Ihr nur dann ein Kruzifix, wenn wir Papisten erwarten. Ansonsten ruht es in einer Truhe, unter dem Vorwand, daß nur Fontanette daran glaube und das kostbare Elfenbein an der Luft vergilbe. Als ich nun aber der Kindheit entwuchs und die Evangelien begriff, wahrlich begriff in ihrem Kern und Wesen, bei der Lektüre immer wieder frappiert von ihrem wundervollen Adel, da dünkte mir ihre Moral sehr schön und sehr neu, viel menschlicher, als ich sie im Alten Testament in so derben und primitiven Farben dargestellt fand. Ich hatte keinen Zweifel, daß letzteres imNeuen Testament Berichtigung erfahren hatte durch den Willen des Herrn, demnach nicht nur die Lehre des Heilands, sondern Christus in Person als göttlichen Ursprungs gelten muß.«
    »Aber wieso seid Ihr, wenn Ihr an Christus glaubt, nicht überzeugter Katholik geworden, was Ihr dem äußeren Schein nach schon wart?«
    »Ich konnte es nicht! Ich konnte nicht billigen, daß die papistischen Priester den Gläubigen die Kenntnis der Heiligen Schrift vorenthalten, daß sie mit Götzenbildnissen das Wort Christi zudecken. Und noch weniger konnte ich ihnen verzeihen, daß sie meine Vorfahren so grausam verfolgt haben. Ich studierte den reformierten Glauben, und da ich dort keinen dieser argen Fehler fand, entschied ich mich für ihn.«
    Nachdem er so gesprochen, saß er stumm da und wischte sich die Tränen von den Wangen, deren er sich wohl ein bißchen schämte. Und während ich schweigend neben ihm saß und seine Rechte in meinen Händen hielt, um ihn zu trösten, fiel mir ein, wie ich einst gezwungen worden war, mich zu bekehren; fast wollte ich Luc darum beneiden, daß er die Freiheit der Wahl gehabt.
    »Wie hat der hochrühmliche Meister Eure Konversion hingenommen?« fragte ich.
    »Mein Vater ist der beste aller Väter!« rief Luc. »Könnte ich je genugsam preisen seine Güte und Milde und seine grenzenlose Toleranz? Er fragte nicht nach seinem eigenen Wohl, sondern nach dem meinen, beugte gütig seine Autorität meiner freien Entscheidung. ›Mein Sohn‹, so sprach er, ›ich respektiere Christus, halte ihn aber nicht für göttlich. Falls Ihr es tut und der Reformation zuneigt, dann geht Euern Weg. Er wird den unermeßlichen Vorteil haben, daß er Euer Scheinen mit Euerm Sein in Einklang bringt. Denn wahrlich, höchst

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