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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Henn
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Walporzheim. Als könne er kein Wässerchen trüben.
Wirkte regelrecht selbstzufrieden, wie er seine Brille putzte, in langsamen
Kreisen die dicken Gläser von Schmutzpartikeln befreiend.
    Jetzt würde er diesen Schatten zu fassen bekommen, der wie ein
schlechtes Omen überall auftauchte.
    Julius trat von hinten
näher auf den Kniebundhosenträger zu, der sich nun an der Linse der monströsen
Kamera zu schaffen machte. Als Julius nur noch ein, zwei Meter hinter ihm
stand, holte er aus der Seitentasche ein kleines Notizbuch hervor. Es fiel
Julius schwer, mit seinen Ledersohlen auf dem kiesigen Boden lautlos vorwärts
zu kommen. Er versuchte es im Zeitlupentempo, bis er nah genug hinter dem
Wanderer stand, um ihm über die Schulter zu blicken. Die schnörkelige Schrift
war schwer zu entziffern, aber Julius kannte die Worte. Dort standen die nahe
gelegenen Weinbergslagen: Domlay, Pfaffenberg, Alte Lay, Kräuterberg,
Gärkammer, Himmelchen, Silberberg und Rosenthal. Hinter einigen fand sich ein
Kreuzchen, hinter den meisten jedoch ein Fragezeichen. Das Himmelchen war
durchgestrichen. Als Julius sich weiter vornüberbeugte, konnte er auch einen
rot durchgestrichenen Namen auf der gegenüberliegenden Seite erkennen: Siggi
Schultze-Nögel.
    Ihm stockte der Atem.
    Das Wiedereinatmen fiel entsprechend laut aus. Unüberhörbar für den
ins Schreiben versunkenen Wanderer, der nach einem kurzen Blick über die
Schulter einen spitzen Schrei ausstieß und, Julius umrempelnd, davonlief,
Richtung »Bunte Kuh«. Dann hielt er inne, drehte sich um, wollte etwas sagen.
Doch als Julius »Bleiben Sie stehen!« rief, tat er gerade das nicht und rannte
wieder los. Julius erkannte, dass der Aufforderung ohne die nötige
Exekutivgewalt der richtige Pfiff fehlte. Wenn er diesen Mann zur Rede stellen
wollte, dann musste er ihn zuerst mit Muskelkraft zum Stehen bringen. Kurz
entschlossen startete er durch, um den Davonlaufenden aufzuhalten. Der rannte
den Rotweinwanderweg bergauf. Die ersten Meter der Verfolgung fielen Julius
nicht schwer. Doch schon, als er den kleinen Parkplatz auf der Kuppe erreichte,
merkte er, dass die vielen Saucen seiner Kondition nicht dienlich waren. Der
Flüchtende folgte weiter dem ausgeschilderten Weg, bog von der asphaltierten
Straße nach links, wo sich nach einem guten halben Kilometer die überdachte
Felsenkanzel »Bunte Kuh« finden würde. Wie bei einer alten Dampflok schoss die
Luft aus Julius heraus. Aber seine Beute schien auch nicht in bester
körperlicher Verfassung zu sein. Sie zog ihr linkes Bein leicht nach. Die
Strecke zur Felsenkanzel schien endlos, mit jedem Schritt wirkte der Weg
länger. Ein Trupp Erntehelfer, der zwischen den Rebreihen arbeitete und die
reifen Spätburgundertrauben abschnitt, blickte den beiden verwundert nach.
Obwohl bereits viel Blut Julius’ Hirn in Richtung Beine verlassen hatte, war
ihm klar geworden, dass er nur eine Chance hatte, wenn seine Beute stolperte.
Denn lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Die Seitenstiche
piesackten ihn bereits, als würde ein irrer Grillkoch Schaschlikspieße in
seinen Leib stoßen.
    Dann bot sich eine unerwartete Chance.
    An der Felsenkanzel stand ein Ahrschwärmer-Pärchen, welches das
Panorama an diesem trüben Tag genoss. Julius blieb stehen und nahm all seine
Kraft zusammen.
    »Halten Sie den Mann fest!« Um die Dringlichkeit seines Anliegens zu
unterstreichen, fügte er noch eine kleine Lüge hinzu: »Polizei!«
    Es funktionierte!
    Der männliche, schmalschultrige Ahrschwärmer drehte sich um und
stellte sich furchtlos dem Flüchtenden in den Weg. Die Frau holte aus ihrer
Umhängetasche eine Kamera hervor.
    Julius sprintete los, plötzlich fanden sich Reserven in den Muskeln.
Es war, als würde sich sein Körper erfreut daran erinnern, zu was er früher
einmal fähig gewesen war.
    Der Fremde rannte den Ahrschwärmer um. Beide landeten auf dem Boden.
    Julius kam näher und näher, konnte erkennen, dass der Mann den
Flüchtenden am Bein festhielt. Nur wenige Meter trennten ihn von der zu Fall
gebrachten Beute. Die Frau schoss ein Foto. Julius spürte, wie das Blut ihm an
den Schläfen klopfte.
    Gleich …
    Der Fremde riss sich los und stolperte über den Rotweinwanderweg in
Richtung Altenwegshof.
    Julius hörte auf zu rennen.
    Die Luft war weg. Der Wille auch. Und vor allem: der Wanderer.
    Es blieb ihm nur, dem immer noch auf dem Boden liegenden
Ahrschwärmer aufzuhelfen, während die Frau ein weiteres Foto machte.
    Der

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