In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Eigentlich hätte es mich freuen sollen, dass sie mich für durchschnittlich hielt. Nichts Besonderes . Denn ich verwendete gerade eine nicht unerhebliche Energie darauf, nicht ich selber zu sein – den Rat von Judy Garland und meiner Mutter hatte ich in den Wind geschlagen. Für mein zweites Studium in Köln, einer Stadt, in der mich niemand kannte, wollte ich nämlich endlich mal alles richtig machen. Jetzt war ich genauso alt wie die anderen Erstsemester-Studenten, und ich hatte niemandem, am wenigsten Leo, verraten, dass ich bereits einen Studienabschluss in Geophysik und Meteorologie hatte, genauso wenig, wie ich mich zu Cembalo, Mandoline, Koreanisch, IQ und Abiturdurchschnitt geäußert hatte. Ich war eine wirklich erstklassige Ausgabe des ganz normalen, netten Mädchens von nebenan.
»Erzähl mir was von dir«, hatte Leo bei unserer ersten Verabredung gesagt.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, hatte ich erwidert. »Ich bin ein ganz durchschnittliches Mädchen.«
»Ein durchschnittliches Mädchen mit einem überdurchschnittlich süßen Gesicht«, hatte Leo gesagt, und ich war rot geworden. Einerseits vor Verlegenheit, andererseits vor Triumph. (Und außerdem noch, weil ich ohnehin wegen jedem bisschen errötete und Leo für den wunderbarsten Mann hielt, der mir jemals über den Weg gelaufen war.)
Ich mochte Leo. Ich mochte sein Aussehen und sein Lächeln und die Art und Weise, wie er mich anschaute. Ich liebte es, wenn er meine Hand nahm, und mir wurde immer ganz schummrig vor Freude, wenn er mich als seine Freundin vorstellte. Endlich, endlich hatte ich jemanden, zu dem ich gehörte.
Von wegen, sei einfach du selbst … alles Blödsinn, Mama! Sei wie die anderen, und schon schaffst du dir Freunde.
Und wie viele Freunde ich auf einmal hatte! Leo war mit seinen blonden Locken, den ebenmäßigen Zähnen und den strahlenden blauen Augen nicht nur der bestaussehende Jurastudent weit und breit (Gott, er sah so großartig aus!), er war auch einer der beliebtesten. Als ich mit ihm zusammenkam, hatte ich daher mit einem Schlag zwanzig neue Freunde und Freundinnen, eine richtige Clique, mit der wir Partys feierten, lernten, essen oder ins Kino gingen und Spieleabende veranstalteten. Plötzlich war ich mittendrin, nicht mehr nur außen vor. Keiner von denen hielt mich für einen Freak, keiner nannte mich Alberta Einstein , und keiner machte blöde Witze über Mandolinen.
Ich sagte mir, dass es ja wohl nur reine Angeberei gewesen wäre, meinen IQ zu erwähnen, solange mich niemand danachfragte. Oder grundlos mit meinen Fremdsprachen zu prahlen. Ich redete mir ein, dass mich Leo und seine Freunde, pardon, meine Freunde, auch dann noch mögen würden, wenn sie alles über mich wüssten, also auch den unnormalen, freakigen Teil. Ich hatte eben nur noch keine Gelegenheit gehabt, ihnen davon zu erzählen.
Wenn meine Eltern mich besuchten – und das taten sie mindestens einmal im Monat, weil sie eine Bahncard hatten und es zwischen Hannover und Köln so eine schnelle ICE - Verbindung gab – sorgte ich dafür, dass sie Leo nicht über den Weg liefen, sicher war sicher. Keine zehn Minuten, und meine Mutter hätte garantiert irgendwas ausgeplaudert.
»Ach, das ist ja lustig, dass Sie Leo heißen«, hätte sie vielleicht gesagt. »Carolin hat mit sechs Jahren mal einen Roman geschrieben, der hieß: ›Die doofe Jasmin und der gemeine Leo‹. Oder, Schätzchen?«
Genau genommen war es kein Roman, sondern ein eigenhändig illustriertes Pamphlet in einem Din-A-5-Heft mit dem Titel »Der doofe Leo und die gemeine Jenny«, denn das waren die Namen von zwei Kindern aus meiner Klasse, die nicht besonders nett zu mir gewesen waren. (Was in der Geschichte mit dem doofen Leo und der gemeinen Jenny passierte, möchte ich hier lieber nicht erzählen.)
Jedenfalls wären es vom »Roman« bis zum Mandolinenunterricht nur ein winzig kleiner Schritt gewesen, und deshalb wollte ich ein Zusammentreffen von Leo mit meiner Familie so lange wie möglich hinauszögern.
Mandolinenunterricht und Leo und Jenny hin oder her – ich hatte eine glückliche Kindheit. Meine Eltern waren immer für uns Kinder da, meine Geschwister zankten sich zwar untereinander wie die sprichwörtlichen Kesselflicker, aber zu mir waren sie lieb und fürsorglich. Was daran liegen mochte,dass sie viel älter waren als ich und sich mit mir nicht mehr um Legosteine oder Ähnliches kloppen mussten. Mimi war elf Jahre älter, mein Bruder Manuel neun. Unsere Eltern
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