In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
nun stand ich im Badezimmer seines Elternhauses und musste mir anhören, dass ich nicht besonders genug war. Eigentlich lustig, wenn man es recht bedachte.
»Sie hätten ruhig den Kamm benutzen dürfen«, sagte Leos Mutter, als ich wieder herauskam. »Er ist extra für Gäste.«
Nein, man konnte nicht sagen, dass es sich bei uns beiden um Sympathie auf den ersten Blick handelte.
Leo stellte mir seine kleinen Schwestern vor, Corinne und Helen. Die beiden großen blonden hübschen Mädchen musterten mich skeptisch von Kopf bis Fuß, und während Corinne sich immerhin ein Lächeln abrang, bedachte mich Helen den ganzen Nachmittag nur mit finsteren Blicken. Leo erklärte mir auf der Rückfahrt, Helen habe sehr an seiner Exfreundin gehangen und nehme es ihm übel, dass er mit ihr Schluss gemacht habe.
»Sie nimmt es wohl eher mir übel!«, sagte ich.
»Unsinn. Das war Wochen, bevor wir uns kennen gelernt haben. Du wirst sehen, nächstes Mal wird sie schon viel netter zu dir sein.«
Mir lief ein Schauder über den Rücken, als er das sagte. Nächstes Mal. Nächstes Mal in Oer-Erkenschwick . Das klang in meinen Ohren ein bisschen wie Filmmusik, zum Beispiel die, mit der die Duschszene in »Psycho« untermalt ist. Oder dieses Dumdidumdidum , das man immer hört, bevor die Schwanzflosse des weißen Hais sichtbar wird.
Leos Mutter hatte Kirschkuchen gebacken, und beim Kaffeetrinken fragte sie mich über meine Familie aus. Ich fühlte mich unter ihrem Blick weiterhin unbehaglich, bemühte mich aber, nur Fakten preiszugeben, die ihr gefallen könnten. Ich sagte, dass mein Vater Ministerialrat war, mein Bruder Arzt und meine Schwester Betriebswirtin. Dass meine Schwester letzten Sommer geheiratet hätte und gerade in Köln ein Haus suchte, und dass mein Bruder und seine Frau demnächst ein Kind bekämen und wir uns alle schrecklich darauf freuen würden. Letzteres war nicht gelogen, sondern nur ein wenig übertrieben. Meine Eltern freuten sich wirklich schrecklich auf das erste Enkelkind, Mimi und ich waren nur mäßig erfreut. Wir hatten bis zum Schluss gehofft, mein Bruder würde der Kreissäge noch einmal den Laufpass geben oder umgekehrt.
Dann log ich ein bisschen und sagte, dass meine Mutter auch ganz hervorragenden Kirschkuchen backen konnte (wahr), aber nicht so hervorragend wie Leos Mutter (gelogen). Es war vielleicht ein bisschen zu schleimig, als ich fragte, ob sie so lieb wäre, mir das Rezept zu verraten, aber ich meinte es ja nur nett.
»Das ist ein geheimes Familienrezept«, sagte Leos Mutter mit einem bedauernden Lächeln. »Es wird nur an Familienangehörige verraten.«
Okay. Ich hatte es versucht. In Gedanken knipste ich den Anbiedermodus wieder aus.
Leos Mutter ihrerseits verriet mir, dass sie Musiklehrerin und / oder Opernsängerin hatte werden wollen, diese Pläne aber der Kinder und ihres Exmannes wegen aufgegeben habe. »Ich habe immer viel Wert auf die musikalische Bildung meiner Kinder gelegt«, sagte sie. »Alle drei haben mein musikalisches Talent gelernt und spielen hervorragend Klavier.«
»Na, jetzt übertreib doch nicht so«, sagte Leo verlegen. »Es ist gerade mal gut genug für den Hausgebrauch.«
»Ich übertreibe nicht«, sagte seine Mutter. »Carola würde sich sicher freuen, wenn du ihr mal was vorspielst.«
»Carolin«, sagte ich.
Leos Mutter fragte, ob man in meiner Familie auch Wert auf musikalische Bildung gelegt hätte. Ich überlegte kurz, was sie an dieser Stelle wohl am liebsten hören würde. Wenn ich Cembalo und Mandoline ins Feld führen würde, hätte das in ihren Augen möglicherweise was von »Ätsch, Pustekuchen, und immer dreimal mehr als du, nänänänänäää« gehabt. Aber ich wollte auch nicht, dass sie uns für komplette Kulturbanausen hielt, deshalb antwortete ich (wahrheitsgemäß), dass wir in der Grundschule alle Blockflötenunterricht gehabt hätten.
Das Lächeln von Leos Mutter gab mir Recht. Sie schien zwar nicht besonders viel von Blockflöte zu halten, wenn man aus ihrer Mimik Rückschlüsse ziehen sollte, aber sie war zufrieden mit meiner Antwort. »Es können ja auch nicht alle Kinder als kleine Mozarts geboren werden«, sagte sie und betrachtete ihren Nachwuchs voller Liebe und Stolz.
Die kleinen Mozarts lächelten liebevoll zurück.
Nach dem Kuchenessen setzte sich die wortkarge Helen Mozart ans Klavier und spielte Beethovens »Für Elise«. »Für Elise« ist an und für sich ein sehr schönes Stück, aber es istauch das meistverhunzte. Das
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