In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
liebten einander, es gab keine finanziellen Probleme, und wir hatten ein ebenso schönes Haus mit Garten wie Leos Mutter in Oer-Erkenschwick. (Entschuldigung, es handelt sich hier um einen klassischen Fall von Erwähnungszwang.) In meiner Kindheit gab es Hund und Katze, viele wunderbare Urlaube und Bilderbuch-Großeltern. Meine Geschwister und ich waren absolut unkompliziert, gesund, gut in der Schule, weder mager- noch drogensüchtig. Mein Bruder machte zwar mal kurz eine Zeit durch, die mein Vater »die Flegeljahre« nannte, aber das Schlimmste, was er als Flegel machte, war, beim Essen die Ellenbogen aufzustützen, »Reg dich nicht auf, Alter / Alte« zu sagen und später nach Hause zu kommen als vereinbart.
Mein Kindheitsglück wurde nur dadurch getrübt, dass ich wenige bis gar keine Freunde hatte. Ich wurde mit fünf Jahren eingeschult, war einen guten Kopf kleiner als die anderen Kinder und noch gänzlich ohne Zahnlücken. Und im Gegensatz zu den anderen Kindern konnte ich schon lesen und schreiben und verstand nicht, was so schwierig daran sein konnte, 10 minus 8 zu rechnen. Die meisten Kinder fanden mich seltsam, faszinierend und abstoßend zugleich. Dazu kam, dass wir in einer eher dörflichen Vorstadtgegend lebten, wo jeder jeden kannte. Wohin ich auch kam, der Ruf, ein seltsamer Freak zu sein, eilte mir schon voraus. Das zweite und das sechste Schuljahr übersprang ich, was mir auch nicht gerade erleichterte, Freundschaften zu schließen. Manche wollten zwar gern mit mir befreundet sein, aber wohl in erster Linie, um sich von mir die Hausaufgaben machen zu lassen. Es tat weh, nicht wirklich dazuzugehören, und in manchen Lebensphasen wiederholte meine Mutter ihren Trostspruch (»Sei einfach du selber …«)geradezu gebetsmühlenartig, aber schließlich richtete ich mich ganz gemütlich in meiner Rolle eines freakigen Außenseiters ein. Es war sozusagen Ehrensache, meinem Ruf gerecht zu werden, Buchstabier- und Mathematikwettbewerbe zu gewinnen, bei »Jugend musiziert« Preise abzuräumen und das beste Abitur der Jahrgangsstufe zu machen, das beste im Landkreis Hannover, um genau zu sein, allerdings nur das zweitbeste von ganz Niedersachsen: Ein anderer Freak – ein siebzehnjähriger Gewinner mehrerer renommierter naturwissenschaftlicher Preise – hatte tatsächlich noch einen besseren Durchschnitt als ich. Ich erwog kurz, ihm zu schreiben, möglicherweise war er ja ein Seelenverwandter, aber dann sah ich ein Bild von ihm in der Zeitung und nahm davon Abstand.
Anders als meine Schwester, die sich vor Verehrern kaum retten konnte, blieb ich bis sechzehn ungeküsst. Der erste Junge, der mich küsste, war mein Nachhilfeschüler Oliver Henselmeier. Oliver war zwar ein halbes Jahr älter als ich, aber drei Klassen unter mir. Es war mir klar, dass unsere Beziehung von vornherein zum Scheitern verurteilt war, aber ich wollte es wenigstens mal versucht haben. Oliver sagte es mir nicht, aber um ein paar Ecken erfuhr ich, dass er nicht wegen des Intelligenzgefälles mit mir Schluss gemacht hatte, sondern weil mein Busen so klein war.
Ich lernte zwei Dinge daraus. Erstens: Jungs ist es egal, wie hoch dein IQ ist, wenn die Körbchengröße stimmt. Zweitens: Ein Junge, dem es egal ist, wie hoch dein IQ ist, weil seiner weit unter deinem liegt, ist nicht wirklich erotisch. (Und der Name Henselmeier natürlich auch nicht, das nur mal so nebenbei.)
Aber mit Leo war es anders. Erstens mochte er meinen Busen genau so wie er war. (Na ja, wenn ich ehrlich bin, sagte er, das Aussehen sei ihm nicht so wichtig, es käme ihm mehr aufdie inneren Werte an.) Zweitens hatte er einen viel höheren IQ als Oliver. Drittens hatte er einen hübschen Nachnamen. Und viertens sagte er lauter nette Sachen zu mir. Nach unserer ersten Nacht – ich hätte wohl gleich am ersten Tag mit ihm geschlafen, aus Prinzip und weil es höchste Zeit für mich war, aber es dauerte ganze vier Wochen, bis wir Sex hatten – sagte er: »Ich meine es wirklich ernst mit dir, Carolin. Ich finde, wir passen einfach gut zueinander.«
Das fand ich auch. Obwohl ich natürlich keinerlei Vergleichsmöglichkeiten hatte und mir auch nicht ganz sicher war, ob Leo auf unsere körperliche oder unsere seelisch-geistige Kompatibilität anspielte. Oder auf beides.
Nach der dritten Nacht sagte Leo: »Ich liebe dich«, und ich antwortete: »Ich liebe dich auch«, so wie sich das gehört. Und dabei fühlte ich mich wirklich, wirklich gut. So normal , irgendwie.
Tja, und
Weitere Kostenlose Bücher