In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
vergangenen fünf Jahren nicht oft gesehen, das Verhältnis war – nicht zuletzt durch mich – schwierig und angespannt. Leo hatte den Kontakt zu seinem Vater am Tag unserer Heirat mehr oder weniger ganz abgebrochen. Die Gründe dafür hatte er in einem Brief dargelegt, den Karl in kleine Fetzen zerrissen und in den Papierkorb geworfen hatte. Es hatte mich über eine Stunde Zeit gekostet, die Fetzen wieder zusammenzulegen, und nach dem Lesen hatte ich sie wieder in den Papierkorb zurückgeworfen, damit Karl nicht merkte, dass ich ihn gelesen hatte. Er hat mir nie etwas von dem Brief erzählt, und ich habe ihm nie erzählt, dass ich seinen Inhalt kannte. Im Nachhinein hatte ich mir manchmal gewünscht, ich wäre nicht so neugierig gewesen, denn leiderhatten sich Leos Worte für immer in mein Gedächtnis gegraben. Von allem, was du unserer Mutter bisher angetan hast, ist das hier wohl der gefühlskälteste und geschmackloseste Affront … Ich wünschte, es wäre dir klar, was für eine peinliche Figur du abgibst, als ein Mann, der die abgelegte Freundin seines Sohnes heiratet und dann auch noch erwartet, dass sich die Familie für ihn freut …
Ich schlief wenig bis gar nicht in diesen Tagen, und zu dem Zeitpunkt, als der erste Brief von Onkel Thomas’ Anwalt eintraf, war ich schon so übermüdet, dass ich manchmal, wenn ich denn mal was sagte, meine eigene Stimme zwar hörte, aber dachte, jemand anders würde mich synchronisieren. Nicht, dass ich viel gesagt hätte. Mehr als »Ja«, »Nein« oder »Das ist mir egal« brachte ich meistens nicht heraus. Ab und an vielleicht noch ein mattes »Danke«. Ich sehnte mich nach Schlaf, nach ein paar Stunden, in denen ich vergessen konnte, dass Karl tot war, ein paar Stunden, in denen ich überhaupt alles vergessen konnte, gleichzeitig hatte ich fürchterliche Angst, einzuschlafen.
Aber selbst, wenn mir die Augen vor Müdigkeit zufielen, blieb ich wach, und die ganze Zeit dachte ich nur immer dasselbe. Karl ist tot. Karl ist tot. Karlisttot. Isttotisttotisttot.
Ich schlief erst ein, als es spannend wurde. Nämlich als Mimi den Brief von Onkel Thomas’ Anwalt öffnete und empört nach Luft schnappte.
Mit fassungsloser Stimme las sie den Brief laut vor, immer unterbrochen von den Ausrufen meines Vaters, der eine Menge unflätige und für ihn untypische Kraftausdrücke gebrauchte.
»Was für ein impertinentes, pietätloses Arschloch !«, rief er, und meine Mutter begann hektisch nach seinen blutdrucksenkenden Mitteln zu suchen. Ich sank derweil tiefer in die Sofakissen.
»… daher ist es meinem Mandanten wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Gegenständen, die in der folgenden Aufstellung aufgelistet sind, um Familienerbstücke handelt, die der Verstorbene lediglich für meinen Mandanten aufbewahrt hat …«
Mein Kopf rutschte zur Seite, mein Atem wurde tiefer und meine Augen fielen zu.
»Sollte der Verstorbene bzw. seine Ehefrau diese Gegenstände veräußert haben, so müssen sie meinem Mandanten im vollen Wertumfang ersetzt werden.«
»Hinterhältiges Schwein !!«, rief mein Vater, an dessen Schulter ich meinen Kopf gelehnt hatte. »Kommt nicht zur Beerdigung seines Bruders, verliert aber keine Zeit, zum Anwalt zu rennen, das gierige Wiesel!«
»Carolin? Schläft die jetzt etwa? Fühl bitte mal einer ihren Puls!«
»Lass sie schlafen«, sagte meine Mutter. »Sie ist so erschöpft, das gibt ihr jetzt den Rest. Lies weiter!«
» Unabhängig von den Ansprüchen der Ehefrau und der Kinder des Verstorbenen macht mein Mandant seine Ansprüche auf folgende Vermögensgegenstände geltend …«, war das Letzte, das ich für vierzehn volle Stunden hörte.
Als ich wieder aufwachte, war ich noch müder und erschöpfter als vorher. Und genauso desinteressiert.
Mimi und mein Vater aber hatten begonnen, Karls Papiere zu sichten und dabei herausgefunden, dass es tatsächlich ein Erbe gab, um das es sich zu streiten lohnte.
Ein Erbe, von dem ich nicht mal geahnt hatte, dass es überhaupt da war. Ein Erbe, dessen Existenz mich sicher geschockt hätte, wenn ich nicht schon wegen Karls Tod in einem Schockzustand gewesen wäre.
Anders als meine Schwester, die Karl, ungeachtet der Mahnung meines Vaters, über Tote nur Gutes zu sagen, fortan nurnoch Ebenizer Scrooge oder »den Geizkragen« nannte, hielt ich Karl auch nach dieser Enthüllung immer noch für einen prinzipiell großzügigen Menschen. Wir hatten – entgegen Mimis Schilderungen über fehlende
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